Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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Alexy spri<strong>ch</strong>t bei Situationen, in denen die Parteien zwar keine Gewißheit, aber<br />
do<strong>ch</strong> »eine gewisse Hoffnung« haben, die an<strong>der</strong>e Seite zur Anerkennung von Autonomie<br />
im Handeln zu bewegen, von »eher unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>en und s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Motiven«<br />
217 . Do<strong>ch</strong> so s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> sind diese Motive ni<strong>ch</strong>t. Sie genügen im Regelfall, um<br />
reale Diskurse mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Die grundsätzli<strong>ch</strong>e Diskursbereits<strong>ch</strong>aft geht<br />
ni<strong>ch</strong>t sofort verloren, wenn eine Seite si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an die Diskursergebnisse hält. Kommunikation<br />
verursa<strong>ch</strong>t nur geringen Aufwand. Deshalb lohnt sie si<strong>ch</strong> selbst dann,<br />
wenn eine Verbesserung <strong>der</strong> Lage zwar ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, aber immerhin mögli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint.<br />
Zwar ers<strong>ch</strong>eint es »ni<strong>ch</strong>t sehr attraktiv«, mit jemandem <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sdiskurse<br />
zu führen, <strong>der</strong> ohne Rücksi<strong>ch</strong>t auf die Ergebnisse seine Herrs<strong>ch</strong>aft mit Gewalt<br />
fortführt 218 . Do<strong>ch</strong> für die Existenz von Diskursen bedarf es einer beson<strong>der</strong>en Attraktivität<br />
ni<strong>ch</strong>t. Es ist geradezu ein Beleg für das ri<strong>ch</strong>tigkeitsverbürgende Potential von<br />
Diskursen, daß sie selbst dort sofort aufleben, wo ihre latente Unterdrückung nur<br />
teilweise gelockert wird. Die Sozialordnungen Chinas, Singapurs und des Iran sind<br />
als Systeme <strong>ch</strong>arakterisiert worden, in denen ein größtmögli<strong>ch</strong>es System individueller<br />
Freiheiten absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t realisiert wird 219 . Diese Staaten bes<strong>ch</strong>ränken politis<strong>ch</strong>e<br />
Meinungsäußerung und verhin<strong>der</strong>n damit eine diskursive Kontrolle ihrer Ordnungsprinzipien.<br />
Do<strong>ch</strong> wo immer sol<strong>ch</strong>e Bes<strong>ch</strong>ränkungen nur teilweise gelockert<br />
werden, sprießen sofort Reformdiskussionen hervor, selbst wenn die Realisierung<br />
sol<strong>ch</strong>er Reformen angesi<strong>ch</strong>ts <strong>der</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>tverhältnisse außerordentli<strong>ch</strong><br />
unrealistis<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint. Das allseitige Vorgeben umfassenden Diskursgehorsams ist<br />
folgli<strong>ch</strong> keine notwendige Voraussetzung für die Existenz von Diskursen. Die empiris<strong>ch</strong>e<br />
Prämisse, daß eine genuine Diskursteilnahme, d.h. die Bereits<strong>ch</strong>aft, alle sozialen<br />
Konflikte dur<strong>ch</strong> Konsense zu lösen, wenigstens geheu<strong>ch</strong>elt werden muß ('S<strong>ch</strong>ritt 6'<br />
<strong>der</strong> Argumentationsfolge), trifft in dieser Allgemeinheit ni<strong>ch</strong>t zu 220 .<br />
No<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>er als in den politis<strong>ch</strong>en Situationen wird <strong>der</strong> Zusammenhang bei<br />
Einzelents<strong>ch</strong>eidungen: Wenn si<strong>ch</strong> M mit ihrer To<strong>ch</strong>ter T auf eine Debatte über das<br />
Tas<strong>ch</strong>engeldes einläßt und dabei zugesteht, daß <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitige Betrag eigentli<strong>ch</strong> zu<br />
niedrig ist, dann aber die Diskussion abbri<strong>ch</strong>t und eine Erhöhung ohne weitere Begründung<br />
verweigert, wird dann die T nie wie<strong>der</strong> einen Versu<strong>ch</strong> unternehmen, mit<br />
M über eine Tas<strong>ch</strong>engel<strong>der</strong>höhung zu diskutieren? Es ist wohl eher das Gegenteil<br />
<strong>der</strong> Fall: T wird erkennen, daß das Zugeständnis s<strong>ch</strong>on ein erster S<strong>ch</strong>ritt auf dem<br />
Weg zur Verbesserung <strong>der</strong> Situation ist. Allein <strong>der</strong> Umstand, daß si<strong>ch</strong> M auf eine<br />
Waffenstillstand s<strong>ch</strong>on dann bereit, wenn überhaupt eine Chance besteht, die Lage signifikant zu<br />
verbessern (Verhandlung o<strong>der</strong> Diskurs).<br />
217 R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152.<br />
218 So das Argument bei R. Alexy, Diskurstheorie und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1995), S. 152.<br />
219 Dazu oben S. 299 ff. (Illustration).<br />
220 Dieselbe Kritik gilt gegenüber <strong>der</strong> Konzeption von A. Honneth, Diskursethik und implizites <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzept<br />
(1986), S. 188: »nur die Gesells<strong>ch</strong>aft darf im Sinne einer Diskursethik letztli<strong>ch</strong><br />
als gere<strong>ch</strong>t gelten, die in ihrer normativen Infrastruktur die Voraussetzungen für herrs<strong>ch</strong>aftsfreie<br />
Dialoge bereithält und also all ihren Mitglie<strong>der</strong>[n] die Chance einer zwanglosen und glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten<br />
Aushandlung von strittigen Normen überhaupt erst gewährt.« A. Cortina, Diskursethik<br />
und Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te (1990), S. 46 f. – Je<strong>der</strong> Teilnehmer habe ein Re<strong>ch</strong>t darauf, daß »Argumente ...<br />
einen wirkli<strong>ch</strong>en Einfluß in den dur<strong>ch</strong> Konsens getroffenen Ents<strong>ch</strong>eidungen haben.« Reale 'Diskurs<strong>ch</strong>ance'<br />
o<strong>der</strong> realer 'Diskursgehorsam' lassen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als notwendige Voraussetzung mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er<br />
Kommunikation verstehen (Präsuppositionsanalyse).<br />
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