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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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eim mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handeln, das in D 1 gemeint ist. Ähnli<strong>ch</strong>es gilt für diejenige religiöse<br />

Begriffsbildung, die <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> im Gottesgehorsam sieht, etwa beim biblis<strong>ch</strong>en<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff des alten und neuen Testaments 131 . Insoweit besteht eine<br />

Paralle zum Gesetzesgehorsam <strong>der</strong> aristotelis<strong>ch</strong>en 'allgemeinen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>' (iustitia<br />

universalis) 132 : Gehorsamsbegriffe taugen ni<strong>ch</strong>t für <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien, weil es<br />

zu <strong>der</strong>en Eigenarten gehört, Normenordnungen kritis<strong>ch</strong> zu hinterfragen statt ein Gehorsamsgebot<br />

vorauszusetzen. Ni<strong>ch</strong>t unter D 1 fällt außerdem das ni<strong>ch</strong>t-religiöse Verständnis<br />

einer 'Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit', wie es si<strong>ch</strong> etwa im Alltagsspra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong> ausdrückt,<br />

wenn wir S<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>läge (z.B. den frühen Tod eines geliebten Mens<strong>ch</strong>en,<br />

die Naturkatastrophe) als 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' beklagen 133 . Derlei 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' ist<br />

vom hier zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff vers<strong>ch</strong>ieden, weil sie si<strong>ch</strong> dem<br />

mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Handeln entzieht.<br />

Der Grund dafür, daß sowohl Gottes- als au<strong>ch</strong> Weltgere<strong>ch</strong>tigkeit in gegenwärtigen<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien keine Rolle spielen, liegt in <strong>der</strong>en Bestreben na<strong>ch</strong> Metaphysikfreiheit<br />

134 . We<strong>der</strong> religiöser Glaube no<strong>ch</strong> weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>es Bekenntnis sind<br />

in demjenigen Sinne begründbar, den <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien als Projekt <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />

Philosophie als 'Begründung' anerkennen 135 . Die <strong>Theorien</strong> erstreben eine<br />

glaubensunabhängige Begründung, was auf die Struktur des von ihnen verwendeten<br />

und in D 1 zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprädikats zurückwirkt: <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und<br />

Handeln sind nur mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Handeln.<br />

5. Ungere<strong>ch</strong>tigkeit als Grundbegriff?<br />

Als Kritik an gegenwärtigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien ist geltend gema<strong>ch</strong>t worden, daß<br />

sie den Begriff <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> zu Unre<strong>ch</strong>t in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Fragestellung<br />

rücken 136 . Eine in je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tige Sozialordnung könne dur<strong>ch</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>skonzepte<br />

allein ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>t werden. Statt dessen soll es zweckmäßiger sein, Sozialtheorien<br />

auf die Analyse von Ungere<strong>ch</strong>tigkeit zu stützen 137 . Die fortwährende Untersu<strong>ch</strong>ung<br />

von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> habe zwar immer neue Ansätze einer Legitimation von<br />

Herrs<strong>ch</strong>aft hervorgebra<strong>ch</strong>t, zur Beseitigung <strong>der</strong> offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Ungere<strong>ch</strong>tigkeiten in<br />

<strong>der</strong> Welt aber ni<strong>ch</strong>ts beigetragen 138 , obwohl die Beseitigung des Übels ein viel dringen<strong>der</strong>es<br />

moralis<strong>ch</strong>e Gebot sei als die S<strong>ch</strong>affung des Guten. Außerdem seien konkre-<br />

131 Vgl. 5 Mose 6.25, 9.6; Römer 2.13; Psalter 1.5; Matthäus 5.10.<br />

132 Aristoteles, Nikoma<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Ethik, S. V 1 (1129a 1 ff.). Dazu oben S. 56 (aristotelis<strong>ch</strong>er <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff).<br />

133 Bei Naturereignissen, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als beson<strong>der</strong>er S<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>lag für einzelne auswirken, etwa<br />

bei einem einfa<strong>ch</strong>en Gewitter, kann man no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal im holistis<strong>ch</strong>en Sinne von '<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>'<br />

o<strong>der</strong> 'Ungere<strong>ch</strong>tigkeit' spre<strong>ch</strong>en; O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 51.<br />

134 Zum hier zugrundegelegten Metaphysikbegriff siehe oben S. 42, Fn. 84.<br />

135 Vgl. oben S. 27 ff. (<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> und praktis<strong>ch</strong>e Vernunft).<br />

136 T. Simon, Democracy and Social Injustice (1995), S. 16 ff.; B. Rüthers, Das Ungere<strong>ch</strong>te an <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />

(1991), S. 20 ff., 133 ff.<br />

137 Vgl. T.R. Kearns/A. Sarat, Legal Justice and Injustice (1996), S. 2: »For every step taken toward realizing<br />

the good, an equal, if not greater, number of steps have been taken in the name of evil.«<br />

Grundlegend dazu J.N. Shklar, Über Ungere<strong>ch</strong>tigkeit (1990).<br />

138 Vgl. die Kritik bei T.R. Kearns/A. Sarat, Legal Justice and Injustice (1996), S. 1 f.<br />

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