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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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ältere Begriffsbestimmungen <strong>der</strong> 'deliberative democracy' hinausführt 576 . Die Bürger<br />

müssen si<strong>ch</strong> einig darüber sein, daß ihre Institutionen in legitimer Weise die Rahmenbedingungen<br />

für eine freie Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in öffentli<strong>ch</strong>er Argumentation<br />

etablieren 577 . Damit verlagert si<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Legitimationsgrund <strong>der</strong> Demokratie weg von<br />

eher formalen Kriterien (Mehrheitsprinzip, Volkssouveränität, Wahlre<strong>ch</strong>tsgrundsätze)<br />

hin zu inhaltli<strong>ch</strong>en Anfor<strong>der</strong>ungen an die öffentli<strong>ch</strong>e Argumentation. Daß ein<br />

Gesetz o<strong>der</strong> ein Kandidat die Mehrheit <strong>der</strong> Stimmen auf si<strong>ch</strong> vereinigt, ist ledigli<strong>ch</strong><br />

ein Indiz für eine vorausgegangene freie Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in öffentli<strong>ch</strong>er Argumentation,<br />

die den eigentli<strong>ch</strong>en Legitimationsgrund <strong>der</strong> Sa<strong>ch</strong>- o<strong>der</strong> Personalents<strong>ch</strong>eidung<br />

bildet 578 . Legitimationsbegründend ist ni<strong>ch</strong>t die Form <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung<br />

o<strong>der</strong> das Verfahren <strong>der</strong> Mehrheitsbildung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Umstand, daß sie in ihrem<br />

Inhalt diskursiv kontrolliert ist und – soweit den Umständen na<strong>ch</strong> angemessen 579 – in<br />

Zukunft bleibt (periodis<strong>ch</strong>e Neuwahl, Gesetzesän<strong>der</strong>ung) 580 .<br />

Laut Habermas fehlen dem Bild <strong>der</strong> deliberativen Demokratie bei Cohen »Aussagen<br />

zum Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en den ents<strong>ch</strong>eidungsorientierten Beratungen, die dur<strong>ch</strong><br />

demokratis<strong>ch</strong>e Verfahren reguliert sind, und den informellen Meinungsbildungsprozessen<br />

in <strong>der</strong> Öffentli<strong>ch</strong>keit.« 581 Die Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung in <strong>der</strong> Demokratie verlaufe<br />

ni<strong>ch</strong>t selbstgenügsam in den Bahnen einer dur<strong>ch</strong> Verfahren geregelten Beratung<br />

und Bes<strong>ch</strong>lußfassung, son<strong>der</strong>n zehre von <strong>der</strong> verfahrensexternen, informellen<br />

heit gemeint; ebd., S. 22: »Deliberation is reasoned in that the parties to it are required to state their<br />

reasons for advancing proposals, supporting them or criticizing them.« (Hervorhebung bei Cohen).<br />

Ähnli<strong>ch</strong> J.S. Fishkin, Democracy and Deliberation (1991), S. 35 ff. unter Bezugnahme auf Habermas<br />

(S. 36).<br />

576 Ein älteres Verständnis meint mit 'deliberative democracy' bloß beratende Politik, insbeson<strong>der</strong>e<br />

jede repräsentativ-parlamentaris<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung; J.-F. Lyotard, Der Wi<strong>der</strong>streit (1983),<br />

S. 245; C. Sunstein, Interest Groups in American Public Law (1985), S. 45 f. (46): »Above all, their<br />

[the legislator's] task was deliberative.« Die An<strong>der</strong>sartigkeit dieses alten Verständnisses wird<br />

deutli<strong>ch</strong>, wenn man dessen Begriffsbildung zurückverfolgt: Sunstein (S. 45, Fn. 72) beruft si<strong>ch</strong> bei<br />

'deliberative democracy' auf J.M. Bessette, The Majority Principle in Republican Government<br />

(1980); Bessette (S. 112 ff.) meint aber nur eine Deliberation in Repräsentativorganen, während er<br />

direktdemokratis<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungsfindung als »greatest threat« für eine gemeinwohlorientierte<br />

Politik ansieht. Sowohl Sunstein als au<strong>ch</strong> Bessette beziehen si<strong>ch</strong> insoweit auf die Fe<strong>der</strong>alist Papers,<br />

in denen die gebotene Deliberation ebenfalls mit gemeinwohlorientierter Repräsentation als Gegenbegriff<br />

zu partikularen Gruppeninteressen identifiziert wird; vgl. insbeson<strong>der</strong>e J. Madison, Fe<strong>der</strong>alist<br />

No. 10 (1787), S. 57 ff. Die neuerdings von Cohen und Habermas gemeinte öffentli<strong>ch</strong>e Argumentation<br />

außerhalb von Parlamenten geht darüber hinaus.<br />

577 J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 21: »Citizens in su<strong>ch</strong> an or<strong>der</strong> share a<br />

commitment to the resolution of problems of collective <strong>ch</strong>oice through public reasoning and regard<br />

their basic institutions as legitimate as far as they establish the framework for free public deliberation.«<br />

578 Vgl. J. Cohen, Deliberation and Democratic Legitimacy (1989), S. 23: »Even un<strong>der</strong> ideal conditions<br />

there is no promise that consensual reasons will be forthcoming. If they are not, then deliberation<br />

concludes with voting, subject to some form of majority rule. The fact that it may so conclude<br />

does not, however, eliminate the distinction between deliberative forms of collective <strong>ch</strong>oice and<br />

form that aggregate by non-deliberative preferences.« (ohne die Fn. 16 bei Cohen).<br />

579 Vgl. oben S. 221 (T Dr ).<br />

580 Vgl. G. Jo<strong>ch</strong>um, Materielle Anfor<strong>der</strong>ungen an das Ents<strong>ch</strong>eidungsverfahren in <strong>der</strong> Demokratie<br />

(1997), S. 67 m.w.N. – die Mehrheitsents<strong>ch</strong>eidung beziehe ihre legitimierende Kraft daraus, daß<br />

sie am Ende eines Diskussionprozesses stehe.<br />

581 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 372 f. (ohne die Hervorhebung bei Habermas).<br />

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