Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Erstens führt die Theorie zu einem wenig überzeugenden Verständnis politis<strong>ch</strong>er<br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, bei dem die Glei<strong>ch</strong>heit <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te negiert wird. Denn eine<br />
unliebsame Konsequenz des Taus<strong>ch</strong>konzepts von Höffe ist <strong>der</strong> Untergang all jener Interessen,<br />
die ni<strong>ch</strong>t mit Taus<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>t einhergehen. Bei Kin<strong>der</strong>n und Alten kann das<br />
Problem mit einem asyn<strong>ch</strong>ronen Taus<strong>ch</strong> umgangen werden. Aber we<strong>der</strong> die Interessen<br />
von Mens<strong>ch</strong>en mit angeborener Behin<strong>der</strong>ung no<strong>ch</strong> diejenigen <strong>der</strong> weit in <strong>der</strong> Zukunft<br />
liegenden Generationen kann Höffes Taus<strong>ch</strong> einfangen. In beiden Fällen gibt es<br />
keinerlei Drohpotential, das den Handlungsmä<strong>ch</strong>tigen <strong>der</strong> Jetztgeneration entgegengehalten<br />
werden könnte. Höffe sieht das Problem selbst 105 . Er meint, man könne unter<br />
Umständen die Grundre<strong>ch</strong>te Behin<strong>der</strong>ter statt als eine Leistung <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
als eine sol<strong>ch</strong>e <strong>der</strong> Solidarität ansehen. Das ist s<strong>ch</strong>on deshalb unbefriedigend, weil<br />
die Re<strong>ch</strong>te Behin<strong>der</strong>ter dann eine an<strong>der</strong>e Qualität hätten als diejenigen von Ni<strong>ch</strong>tbehin<strong>der</strong>ten.<br />
Sie sind keine vorpositiv begründeten, staatli<strong>ch</strong> 'gewährleisteten' Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te,<br />
son<strong>der</strong>n allein positiv 'gewährte' Grundre<strong>ch</strong>te. Außerdem wi<strong>der</strong>spri<strong>ch</strong>t<br />
diese Lösung <strong>der</strong> Sozialstaatskonzeption Höffes. Wenn Staatli<strong>ch</strong>keit nur dienend ist –<br />
Sozialstaatli<strong>ch</strong>keit also vor allem demokratiefunktional zur Verwirkli<strong>ch</strong>ung <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te<br />
legitimiert werden kann – dann bestünde für den Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz Behin<strong>der</strong>ter<br />
kein Grund. Erst <strong>der</strong> Bestand von Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>ten re<strong>ch</strong>tfertigt staatli<strong>ch</strong>e Aktivität<br />
zu ihrem S<strong>ch</strong>utz.<br />
Zweitens bildet die Unbestimmtheit des Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskanons einen S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>punkt<br />
<strong>der</strong> Theorie. Höffe äußert si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t eindeutig dazu, wel<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te in<br />
<strong>der</strong> natürli<strong>ch</strong>en <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> bestehen. Er spri<strong>ch</strong>t zunä<strong>ch</strong>st nur von Leib, Leben, Eigentum,<br />
Ehre und Religion, führt später aber au<strong>ch</strong> die Meinungsfreiheit an 106 . Diese<br />
Unbestimmtheit hat gerade für Höffes Theorie einiges Gewi<strong>ch</strong>t. Denn davon, was in<br />
dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Taus<strong>ch</strong>paket enthalten ist, hängt ab, ob ein späterer Re<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>utz<br />
nur funktional ist und damit unter Umständen zur Disposition des Staates<br />
steht, o<strong>der</strong> ob eine vorpositive Geltung beanspru<strong>ch</strong>t werden kann. Versu<strong>ch</strong>t man<br />
Höffes Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tspaket zu konkretisieren, so fällt auf, daß bei nahezu allen Kandidaten<br />
für den Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tskanon die glei<strong>ch</strong>e Argumentation wie bei Ehre und<br />
Religion gilt. Praktis<strong>ch</strong> jedes Re<strong>ch</strong>t ist einigen Mens<strong>ch</strong>en wi<strong>ch</strong>tiger als ihr Leben. Es<br />
gibt immer Einzelne, die für ihre Meinungsfreiheit, ihre Wissens<strong>ch</strong>aftsfreiheit, ihre<br />
Kunstfreiheit, ihr Erziehungsre<strong>ch</strong>t, ihren ungestörten Naturgenuß sogar sterben würden.<br />
Konsequenterweise muß darum eine allgemeine Handlungsfreiheit zum Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t<br />
erhoben werden 107 . Damit aber gewinnt das Taus<strong>ch</strong>paket einen an<strong>der</strong>en<br />
Charakter. Die Re<strong>ch</strong>te im sekundären Naturzustand haben ni<strong>ch</strong>t mehr nur ein Wirkli<strong>ch</strong>keitsdefizit,<br />
weil sie ohne staatli<strong>ch</strong>e Autorität ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>setzbar sind, son<strong>der</strong>n<br />
sie haben zusätzli<strong>ch</strong> ein Bestimmtheitsdefizit, weil ohne Abgrenzung <strong>der</strong> Hand-<br />
105 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 427: »Es soll ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>wiegen werden, daß bei einer<br />
Legitimation natürli<strong>ch</strong>er Re<strong>ch</strong>te dur<strong>ch</strong> den Taus<strong>ch</strong> von Freiheitsverzi<strong>ch</strong>ten diejenigen aus dem<br />
Kreis <strong>der</strong> Nutznießer ausgenommen bleiben, die aufgrund angeborener Behin<strong>der</strong>ung über keine<br />
Drohpotentiale verfügen und deshalb au<strong>ch</strong> in entwicklungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Betra<strong>ch</strong>tung zu keinem<br />
(nennenswerten) Taus<strong>ch</strong> auf Gegenseitigkeit fähig sind.«<br />
106 O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 402: »als Lebewesen brau<strong>ch</strong>t <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong> ... Leib und<br />
Leben, als Spra<strong>ch</strong>- und Denkwesen die Meinungsfreiheit u.s.w.«<br />
107 Etwas unbestimmt insofern O. Höffe, <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> als Taus<strong>ch</strong>? (1991), S. 125: Ein »Interesse zweiter<br />
Stufe besteht in <strong>der</strong> Handlungsfreiheit«.<br />
282