Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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e) Die Argumentation als Gegensatz zur Verhandlung (arguing vs. bargaining)<br />
Ein beson<strong>der</strong>es Charakteristikum <strong>der</strong> Diskurstheorien ist ihre gemeinsame Frontenstellung<br />
gegenüber <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens. Als einzige Gemeinsamkeit<br />
weisen die beiden Theoriegruppen ihre Zugehörigkeit zu den prozeduralen <strong>Theorien</strong><br />
auf 500 . Abgesehen davon unters<strong>ch</strong>eiden sie si<strong>ch</strong> in fast je<strong>der</strong> Hinsi<strong>ch</strong>t. Am wi<strong>ch</strong>tigsten<br />
sind die Di<strong>ch</strong>otomien <strong>der</strong> Erfolgs- versus Verständigungsorientierung und des<br />
strategis<strong>ch</strong>en versus ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Handelns.<br />
Die Grundhaltung <strong>der</strong> Aktoren in praktis<strong>ch</strong>en Diskursen ist ni<strong>ch</strong>t erfolgsorientiert,<br />
sie ist verständigungsorientiert 501 . Während das Instrument <strong>der</strong> Verhandlung<br />
bloß die gemeinsame Willensbildung, also eine tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Opportunitätsents<strong>ch</strong>eidung,<br />
erstrebt, ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> die Argumentation auf gemeinsame Urteilsbildung, also eine<br />
praktis<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tigkeitsents<strong>ch</strong>eidung 502 . Entspre<strong>ch</strong>end erfolgt die dur<strong>ch</strong> Kooperation<br />
ausgelöste gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Integration intentional (als Audruck einer gemeinsamen<br />
Absi<strong>ch</strong>t) und ni<strong>ch</strong>t bloß objektiv (als bloßer Nebeneffekt <strong>der</strong> Einigung) wie bei rationalem,<br />
interessenoptimierendem Ents<strong>ch</strong>eidungsverhalten und – beson<strong>der</strong>s deutli<strong>ch</strong> –<br />
bei allen Marktme<strong>ch</strong>anismen 503 . Der grundlegende Unters<strong>ch</strong>ied besteht zwis<strong>ch</strong>en<br />
dem Argumentieren (arguing) einerseits und dem Verhandeln (bargaining) an<strong>der</strong>erseits<br />
504 . Das diskursfremde Zwangselement wird bei <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
darin unmittelbar deutli<strong>ch</strong>, daß sie eine stärkere Verhandlungsma<strong>ch</strong>t o<strong>der</strong> ein<br />
größeres Drohpotential in die Ents<strong>ch</strong>eidung einbeziehen. Selbst <strong>der</strong> von Lucas und<br />
Gauthier gewählte Ausgangspunkt einer s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ten Ni<strong>ch</strong>tkooperation ohne Drohung<br />
enthält diskursantagonistis<strong>ch</strong>e Elemente. Au<strong>ch</strong> diese Theorie geht von einem erfolgsorientierten,<br />
weil interessengeleiteten und nutzenmaximierenden Handeln <strong>der</strong><br />
Beteiligten als Teilnehmer einer Verhandlung (individual rational bargainers) statt als<br />
Teilnehmer eines Diskurses aus 505 .<br />
Diskurstheorien gehen außerdem von einem ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>en Handeln <strong>der</strong> Beteiligten<br />
aus. 'Strategis<strong>ch</strong>' ist ein Handeln, mit dem ein Handeln<strong>der</strong> (teleologis<strong>ch</strong>) ein<br />
Ziel verfolgt und dabei die Ents<strong>ch</strong>eidungen mindestens eines weiteren zielgeri<strong>ch</strong>tet<br />
Handelnden in sein Erfolgskalkül einbezieht 506 . <strong>Theorien</strong> rationalen Ents<strong>ch</strong>eidens<br />
entwickeln für das strategis<strong>ch</strong>e Handeln (pragmatis<strong>ch</strong>e) Zweck-Mittel- o<strong>der</strong> Präferenz-Mögli<strong>ch</strong>keits-Modelle<br />
praktis<strong>ch</strong>er Rationalität 507 . Das kommunikative Handeln<br />
in Diskursen ist demgegenüber ni<strong>ch</strong>tstrategis<strong>ch</strong>, weil es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t am Erfolg des<br />
500 Dazu oben S. 132 ff. (prozedurale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien).<br />
501 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 44. Der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Erfolgs- und Verständigungsorientierung<br />
zeigt si<strong>ch</strong> bis hin zur diskursiven Interpretation gesetzgeberis<strong>ch</strong>en Selbstverständnisses.<br />
Vgl. dazu J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 50.<br />
502 Vgl. R. Alexy, Theorie <strong>der</strong> juristis<strong>ch</strong>en Argumentation (1991), S. 407.<br />
503 J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 58 f. mit Hinweis auf Adam Smiths Konzept <strong>der</strong> 'unsi<strong>ch</strong>tbaren<br />
Hand'. Treffend darum <strong>der</strong> Titel des von L. Kern/H.-P. Müller herausgegebenen Werkes<br />
'<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, Diskurs o<strong>der</strong> Markt?'.<br />
504 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 205.<br />
505 D. Gauthier, Bargaining and Justice (1985), S. 206.<br />
506 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (1981), S. 127.<br />
507 J.C. Harsanyi, Advances in Un<strong>der</strong>standing Rational Behavior, S. 90 ff. – 'means-ends concept of rational<br />
behavior' bzw. 'preferences-opportunities model'.<br />
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