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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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Begründung einer kollektiven Identität, d.h. eines gemeinsamen Wertekanons und einer<br />

gemeinsamen Lebensweise unter denjenigen Mens<strong>ch</strong>en, die zusammenleben 259 .<br />

Diese Identität kann ni<strong>ch</strong>t allein auf effektiver Dur<strong>ch</strong>setzung erzwungener Konformität<br />

beruhen, son<strong>der</strong>n liegt erst in <strong>der</strong> freiwilligen Übereinkunft unter den Mitglie<strong>der</strong>n<br />

eines Sozialwesens. So wird bei Aristoteles die Ethik des Einzelnen in die Polis<br />

<strong>der</strong> Bürger einbezogen, tritt bei Hegel die Aufhebung des Gegensatzes von erzwungener<br />

Konformität und autonomer Moralität in <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit ein und finden Kommunitaristen<br />

die harmoniebildende Identität in <strong>der</strong> Kontinuität gemeinsamer historis<strong>ch</strong>er<br />

Lebensweisen 260 .<br />

Unter den Grundpositionen <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>en Philosophie ist die aristotelis<strong>ch</strong>e diejenige,<br />

die ethis<strong>ch</strong>en Vernunftgebrau<strong>ch</strong> am stärksten betont. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> hier gilt:<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>der</strong> hobbesianis<strong>ch</strong>en und kantis<strong>ch</strong>en Grundposition können dem ethis<strong>ch</strong>en<br />

Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft Bedeutung zuerkennen, soweit dies im Rahmen<br />

<strong>der</strong> für sie in erster Linie maßgebli<strong>ch</strong>en pragmatis<strong>ch</strong>en bzw. moralis<strong>ch</strong>en Kriterien<br />

mögli<strong>ch</strong> ist.<br />

cc) Moralis<strong>ch</strong>er Vernunftgebrau<strong>ch</strong><br />

S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> liegt ein moralis<strong>ch</strong>er Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft vor, wenn man<br />

na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> <strong>der</strong> Handlungsweise selbst fragt, also in <strong>der</strong> hier auss<strong>ch</strong>laggebenden<br />

Definition na<strong>ch</strong> <strong>der</strong> Ri<strong>ch</strong>tigkeit und Pfli<strong>ch</strong>tigkeit eines Verhaltens in bezug<br />

auf an<strong>der</strong>e 261 . Das Handeln verlangt na<strong>ch</strong> einer überindividuellen Re<strong>ch</strong>tfertigung,<br />

muß also universalisierbaren Regeln gehor<strong>ch</strong>en, d.h. sol<strong>ch</strong>en, die für alle Mens<strong>ch</strong>en<br />

als verbindli<strong>ch</strong> begründet werden können. Allgemeine Handlungsprinzipien erlangen<br />

dabei den Status kategoris<strong>ch</strong>er Imperative: 'Handlungsweise A ist besser als<br />

Handlungsweise B, weil sie einem allgemeinen Gesetz enspri<strong>ch</strong>t, das für alle ri<strong>ch</strong>tig<br />

ist.' Die individuelle Perspektive pragmatis<strong>ch</strong>er und ethis<strong>ch</strong>er Motive ('besser für<br />

mi<strong>ch</strong>', 'besser für mi<strong>ch</strong> in meiner Gemeins<strong>ch</strong>aft') wird dabei zugunsten einer universellen<br />

Perspektive ('besser für alle') verlassen. Der moralis<strong>ch</strong>e Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en<br />

Vernunft zeigt si<strong>ch</strong> in moralis<strong>ch</strong>en Selbstbes<strong>ch</strong>ränkungen (moral constraints),<br />

d.h. in <strong>der</strong> Zurückstellung eigener Neigungen, Werte und Ziele hinter Überlegungen,<br />

die auf alle bezogen sind. So, wie <strong>der</strong> ethis<strong>ch</strong> Handelnde die augenblickli<strong>ch</strong>en Neigungen<br />

zugunsten seiner längerfristigen Konzeption des Guten zurückstellt und gerade<br />

in dieser Neigungsverdrängung zur Tugendhaftigkeit gelangt, so stellt <strong>der</strong> mo-<br />

259 Zur Herausbildung einer kollektiven Identität als Ergebnis ethis<strong>ch</strong>-politis<strong>ch</strong>er Diskurse siehe<br />

J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />

(1988), S. 117.<br />

260 Vgl. J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft<br />

(1988), S. 100, 106.<br />

261 Zur Bezugnahme auf das 'Gere<strong>ch</strong>te' siehe J. Habermas, Vom pragmatis<strong>ch</strong>en, ethis<strong>ch</strong>en und moralis<strong>ch</strong>en<br />

Gebrau<strong>ch</strong> <strong>der</strong> praktis<strong>ch</strong>en Vernunft (1988), S. 101; zum hier zugrundegelegten <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sbegriff<br />

siehe oben S. 50 (D 1 ). Hier soll <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Sittli<strong>ch</strong>keit für konventionelle Moralvorstellungen<br />

innerhalb einer historis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft reserviert bleiben. Häufig werden die<br />

Prädikate 'moralis<strong>ch</strong>' und 'sittli<strong>ch</strong>' dagegen synonym verwendet; so z.B. ausdrückli<strong>ch</strong> O. Höffe, Politis<strong>ch</strong>e<br />

<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1987), S. 55. Diese moralsynonyme Verwendungsweise von 'Sittli<strong>ch</strong>keit'<br />

und 'Sittengesetz' geht auf Kant zurück; I. Kant, KrV (1781), B 834 / A 806 ff.<br />

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