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Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch

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kratien entspre<strong>ch</strong>en, <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorie von Habermas argumentativ wi<strong>der</strong>stehen<br />

können.<br />

Die Volksrepublik China steht für ein Einparteiensystem mit eng geführter<br />

Staatskontrolle und einer alle Lebensberei<strong>ch</strong>e erfassenden politis<strong>ch</strong>en Ideologie. Die<br />

Freiheit zur politis<strong>ch</strong>en Meinungsäußerung und Information, die Mögli<strong>ch</strong>keit einer<br />

legalen Opposition und die Öffnung gegenüber an<strong>der</strong>en Kulturen sind dur<strong>ch</strong> ein effektives<br />

Verbotssystem nahezu auf Null reduziert (Äußerungsverbote, Medienregime,<br />

Kontaktsperren, Internetzensur an zentralisierten Zugangsknoten). Die Persönli<strong>ch</strong>keitsentfaltung,<br />

körperli<strong>ch</strong>e Unversehrtheit, persönli<strong>ch</strong>e Freiheit und das Lebensre<strong>ch</strong>t<br />

stehen unter dem Vorbehalt <strong>der</strong> Ideologiekonformität (Ein-Kind-Politik,<br />

Haftstrafen ohne Verfahren, Demonstrationsnie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lagung, exzessive Todesstrafenpolitik).<br />

Sol<strong>ch</strong>e Defizite an öffentli<strong>ch</strong>er und privater Autonomie sind mit den<br />

Grundre<strong>ch</strong>tsgeboten in Habermas Theorie ni<strong>ch</strong>t vereinbar. Was würde ein regierungstreuer<br />

Diskurstheoretiker in China auf die Begründung erwi<strong>der</strong>n, die Freiheitsgebote<br />

ergäben si<strong>ch</strong> »s<strong>ch</strong>on aus <strong>der</strong> Anwendung des Diskursprinzips auf das<br />

Re<strong>ch</strong>tsmedium als sol<strong>ch</strong>es« 206 ? Er könnte zugestehen, daß das Diskursprinzip D 207 H<br />

als Begründungsprinzip gilt und glei<strong>ch</strong>wohl bestreiten, es verlange individuelle<br />

Freiheiten aller Staatsbürger. Es ist geradezu Teil <strong>der</strong> staatssozialistis<strong>ch</strong>en Ideologie,<br />

daß je<strong>der</strong>mann – Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit und Informiertheit vorausgesetzt – idealiter die<br />

Ri<strong>ch</strong>tigkeit <strong>der</strong> <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Sozialordnung erkennen kann. Die Behauptung, daß<br />

si<strong>ch</strong> die Betroffenen in einem idealen Diskurs auf die Ordnungsregeln des <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en<br />

Sozialismus und damit auf die zumindest teilweise Ablehnung individueller<br />

Freiheitsre<strong>ch</strong>te einigen könnten, wird in Habermas Theorie ni<strong>ch</strong>t entkräftet. Nun<br />

könnte Habermas als Argument für Legitimationsmängel im <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en System<br />

feststellen, daß in China die prozeduralen Anfor<strong>der</strong>ungen an reale Diskurse, insbeson<strong>der</strong>e<br />

die Informations- und Meinungsfreiheit, ni<strong>ch</strong>t erfüllt sind. Das trifft zu.<br />

Do<strong>ch</strong> könnte <strong>der</strong> <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>e Diskurstheoretiker einwenden, die gegenwärtigen Eins<strong>ch</strong>ränkungen<br />

realer Diskurse ließen si<strong>ch</strong> ihrerseits unter Rückgriff auf ideale Diskurse<br />

re<strong>ch</strong>tfertigen: gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Diskussion könne außerhalb des ideologis<strong>ch</strong> gesi<strong>ch</strong>erten<br />

Rahmens keine Ri<strong>ch</strong>tigkeit verbürgen, weil die notwendige Informiertheit<br />

und Herrs<strong>ch</strong>aftsfreiheit dur<strong>ch</strong> westli<strong>ch</strong>e Propaganda boykottiert würde. Derlei<br />

(hypothetis<strong>ch</strong>en) Argumenten mag viel entgegenzuhalten sein; die Begründung <strong>der</strong><br />

Grundre<strong>ch</strong>tsgruppen bei Habermas liefert die nötigen Gegenargumente indes ni<strong>ch</strong>t.<br />

Im na<strong>ch</strong>revolutionären Iran ist im Gegensatz zu China ein politis<strong>ch</strong>er Pluralismus<br />

und eine marktwirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Ökonomie vorhanden, nur steht die Staatsordnung<br />

unter einem umfassenden Religionsvorbehalt. Die Regeln <strong>der</strong> Sozialordnung prägen<br />

religiöse Revolutionswä<strong>ch</strong>ter: Frauen ist in <strong>der</strong> Öffentli<strong>ch</strong>keit je<strong>der</strong> unvers<strong>ch</strong>leierte<br />

Aufenthalt o<strong>der</strong> Kontakt mit ni<strong>ch</strong>tverwandten Männern verboten; <strong>der</strong> Zugang zu<br />

westli<strong>ch</strong>er Kultur unterliegt religiöser Aufsi<strong>ch</strong>t (Verbot des Satellitenfernsehens, religiöse<br />

Kontrolle des Kinoprogramms); die Re<strong>ch</strong>tsordnung, insbeson<strong>der</strong>e das strafre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />

Sanktionensystem, untersteht dem Primat des Islam. Mit den Grundre<strong>ch</strong>-<br />

206 So J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 156.<br />

207 D H lautet na<strong>ch</strong> J. Habermas, Faktizität und Geltung (1992), S. 138: »Gültig sind genau die Handlungsnormen,<br />

denen alle mögli<strong>ch</strong>erweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen<br />

könnten.«<br />

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