Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
prozeduralen Konzeptionen praktis<strong>ch</strong>er Vernunft. Damit liefern sie gute Gründe für<br />
Demokratie, Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te und an<strong>der</strong>e Elemente mo<strong>der</strong>ner Gesells<strong>ch</strong>aftsordnungen<br />
und tragen so wesentli<strong>ch</strong> zu <strong>der</strong>en Legitimation bei.<br />
II.<br />
Interpretierende Re<strong>ch</strong>tsanwendung (Orientierungsbedarf)<br />
Der Orientierungsbedarf interpretieren<strong>der</strong> Re<strong>ch</strong>tsanwendung läßt si<strong>ch</strong> an einem<br />
Fallbeispiel zur Umverteilungsproblematik deutli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en: Darf <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
einer Gesells<strong>ch</strong>aftsgruppe (Arbeitgeber) eine Geldleistungspfli<strong>ch</strong>t auferlegen, mit <strong>der</strong><br />
die Berufsausbildung einer an<strong>der</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aftsgruppe (ausbildungssu<strong>ch</strong>ende Jugendli<strong>ch</strong>e)<br />
geför<strong>der</strong>t wird 34 ? Sol<strong>ch</strong>e und ähnli<strong>ch</strong>e Konstellationen, bei denen eine soziale<br />
Gruppe zugunsten einer an<strong>der</strong>en belastet wird, gehören zum Kernberei<strong>ch</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sproblematik. Sie betreffen gesamtgesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit,<br />
genauer: die soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> 35 , und werfen regelmäßig die Frage<br />
auf, inwieweit Umverteilungen zulässig sind 36 . Wenn es an einer ausdrückli<strong>ch</strong>en<br />
Verfassungsbestimmung über die Zulässigkeit einer sol<strong>ch</strong>en Abgabe fehlt, kommt es<br />
bei <strong>der</strong> Ents<strong>ch</strong>eidung auf Verfassungsinterpretation an. Diese wie<strong>der</strong>um greift explizit<br />
o<strong>der</strong> implizit auf Vorstellungen davon zurück, wel<strong>ch</strong>e Ordnungsvorstellung<br />
dem Verfassunggeber als Leitbild zugrunde lag 37 . Sol<strong>ch</strong>e vorpositiven Leitbil<strong>der</strong> finden<br />
si<strong>ch</strong> in <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>stheorien. Ginge man etwa von einem libertären Sozialvertragsmodell<br />
aus, so wäre jede Umverteilung ausges<strong>ch</strong>lossen. Eine an diesem Leitbild<br />
orientierte Verfassungsinterpretation zöge dem Gesetzgeber enge Grenzen und müßte<br />
die im Beispiel angespro<strong>ch</strong>ene Son<strong>der</strong>abgabe als unzulässig verwerfen. Ist das<br />
Leitbild hingegen ein egalitäres Sozialvertragsmodell, so sind Umverteilungen dur<strong>ch</strong><br />
den Gesetzgeber geradezu gefor<strong>der</strong>t. Entspre<strong>ch</strong>end würde die Verfassungsinterpretation<br />
zur Anerkennung einer weitgehenden Zulässigkeit von Abgaben<br />
tendieren 38 . Die Re<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung befriedigt ihren Orientierungsbedarf unter ande-<br />
34 Vgl. aus <strong>der</strong> deuts<strong>ch</strong>en Verfassungsjudikatur: BVerfGE 55, 274 – Berufsbildungsabgabe. Son<strong>der</strong>abgaben<br />
sind Geldleistungspfli<strong>ch</strong>ten, die einem begrenzten Personenkreis im Hinblick auf einen<br />
beson<strong>der</strong>en wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en o<strong>der</strong> sozialen Zusammenhang auferlegt werden.<br />
35 Vgl. unten S. 58 (Verteilungsgere<strong>ch</strong>tigkeit, soziale <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>).<br />
36 In verglei<strong>ch</strong>barer Weise problematis<strong>ch</strong> sind etwa die progressive Besteuerung, die Sozialbindung<br />
des Eigentums, S<strong>ch</strong>utzpfli<strong>ch</strong>ten des Staates und das Sozialstaatsprinzip.<br />
37 H. Dreier, Ethik des Re<strong>ch</strong>ts (1992), S. 40 f.; <strong>der</strong>s., Re<strong>ch</strong>tsethik und staatli<strong>ch</strong>e Legitimität (1993),<br />
S. 389 – Verfassungsinterpretation als »Akt praktis<strong>ch</strong> wirksamer re<strong>ch</strong>tsphilosophis<strong>ch</strong>er Anstrengung«;<br />
D. v.d. Pfordten, Re<strong>ch</strong>tsethik (1996), S. 218 f. – Verfassungsnormen als 'evaluative Vorgaben'.<br />
Vgl. zum tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Moralbezug des positiven Re<strong>ch</strong>ts: H.L.A. Hart, Concept of Law<br />
(1961), S. 181: »Thus, it cannot seriously be disputet that the development of law, at all times and<br />
places, has in fact been profoundly influenced both by the conventional morality and ideals of<br />
particular social groups, and also by forms of enlightened moral criticism urged by individuals,<br />
whose moral horizon has transcended the morality currently accepted.«<br />
38 Im zitierten Fall hat das Bundesverfassungsgeri<strong>ch</strong>t einen Mittelweg gewählt. Der Gesetzgeber<br />
dürfe zwar aus Gründen des Individuals<strong>ch</strong>utzes ni<strong>ch</strong>t 'na<strong>ch</strong> seiner Wahl' eine öffentli<strong>ch</strong>e Aufgabe<br />
dur<strong>ch</strong> parafiskalis<strong>ch</strong>e Son<strong>der</strong>abgaben finanzieren, habe dazu aber innerhalb enger Grenzen (homogene<br />
Gruppe, Sa<strong>ch</strong>nähe, gruppennützige Verwendung, Ausnahme<strong>ch</strong>arakter) Kompetenz. Siehe<br />
BVerfGE 55, 274 (300 ff.). Die Senatsmehrheit hielt diese Grenzen für eingehalten (BVerfGE 55,<br />
274 [274 f.]), während die Ri<strong>ch</strong>ter Rinck, Steinberger und Träger in ihrem Son<strong>der</strong>votum (BVerfGE<br />
34