Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit - servat.unibe.ch
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ster Konzeptionen des Guten (Religionen, Moralphilosophien) befürwortet werden<br />
könnte.<br />
Beides, sowohl die Mögli<strong>ch</strong>keit wie die Notwendigkeit einer freistehenden Konzeption<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, ist zweifelhaft. Das gilt jedenfalls für diejenigen <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>sprinzipien,<br />
die Rawls vorges<strong>ch</strong>lagen hat. Au<strong>ch</strong> zeigt si<strong>ch</strong>, daß <strong>der</strong> politis<strong>ch</strong>e<br />
Liberalismus nur vor<strong>der</strong>gründig eine moralis<strong>ch</strong> zielneutrale Konzeption ist, da er<br />
tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> alle wi<strong>ch</strong>tigen moralis<strong>ch</strong>en Normen im Interesse <strong>der</strong> Stabilität explizit<br />
festlegt und abwei<strong>ch</strong>ende Konzeptionen als irrational auss<strong>ch</strong>ließt 132 .<br />
Do<strong>ch</strong> mögen sol<strong>ch</strong>e Bedenken überwindbar sein, wenn man wie Jansen den methodis<strong>ch</strong>en<br />
Ansatz <strong>der</strong> freistehenden Konzenption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> von Rawls neu<br />
ausfüllt 133 . Als Beispiel für eine freistehende Konzeption, die real mögli<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint,<br />
führt Jansen die Werkinterpretation unter Kammermusikern an. Diese müssen eine<br />
einheitli<strong>ch</strong>e Interpretation finden, obwohl sie unter Umständen von ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en<br />
Vorstellungen ausgehen. An<strong>der</strong>s als in einem Symphonieor<strong>ch</strong>ester, das<br />
<strong>der</strong> Autorität des Dirigenten gehor<strong>ch</strong>t, müssen die Kammermusiker untereinan<strong>der</strong><br />
selbst eine Lösung finden. Diese gemeinsame Interpretation tritt neben diejenige, die<br />
aus Si<strong>ch</strong>t des einzelnen Musikers ri<strong>ch</strong>tig wäre. Niemand kann seine eigene Interpretationsvorstellung<br />
ganz dur<strong>ch</strong>setzen. Die individuellen Ansi<strong>ch</strong>ten werden glei<strong>ch</strong>wohl<br />
ni<strong>ch</strong>t wi<strong>der</strong>legt, son<strong>der</strong>n ledigli<strong>ch</strong> im Interesse eines gemeinsamen Werkverständnisses<br />
zurückgestellt. Ein Mittel, die so verstandene freistehende Konzeption<br />
in <strong>der</strong> Sozialordnung real mögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, besteht na<strong>ch</strong> Jansen darin, die Prinzipienstruktur<br />
von <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>snormen zu nutzen. Die Prinzipienstruktur erlaubt<br />
dur<strong>ch</strong> das Konzept <strong>der</strong> Abwägung die Berücksi<strong>ch</strong>tigung kollidieren<strong>der</strong> Normen 134 .<br />
Sie ist darum in beson<strong>der</strong>er Weise geeignet, zu einer freistehenden Konzeption <strong>der</strong><br />
<strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> beizutragen und wird dann zu einer freistehenden Prinzipienkonzeption<br />
<strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong>, die ihren realen Nie<strong>der</strong>s<strong>ch</strong>lag in einem Konsens über eine Grundre<strong>ch</strong>tsordnung<br />
findet, in <strong>der</strong> die wi<strong>der</strong>streitenden Interessen dur<strong>ch</strong> eine Abwägung<br />
zwis<strong>ch</strong>en divergierenden Grundre<strong>ch</strong>tsnormen zu einem fairen Ausglei<strong>ch</strong> gebra<strong>ch</strong>t<br />
werden. Bei alledem wird deutli<strong>ch</strong>, daß freistehende Konzeptionen <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong><br />
mit dem ursprüngli<strong>ch</strong>en Sozialvertragsmodell von Rawls ni<strong>ch</strong>ts mehr gemein<br />
haben. Sie bilden einen Neubeginn, <strong>der</strong> am ehesten mit den Darstellungsmitteln <strong>der</strong><br />
Standpunkt- o<strong>der</strong> Diskurstheorien ausgearbeitet werden könnte, was indes no<strong>ch</strong> aussteht.<br />
132 Zu dieser Kritik P. S<strong>ch</strong>nepel, Liberalismus als Theorie <strong>der</strong> amerikanis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft (1995),<br />
S. 154.<br />
133 In <strong>der</strong> Rekonstruktion von N. Jansen, Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 271 ff., ist eine freistehende<br />
Konzeption <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> dur<strong>ch</strong> vier Elemente gekennzei<strong>ch</strong>net: Erstens ist sie das Ergebnis<br />
einer moralis<strong>ch</strong>en Einigung, ni<strong>ch</strong>t das einer gemeinsamen Erkenntnis. Zweitens bildet sie<br />
neben individuellen Überzeugungen ein zusätzli<strong>ch</strong>es Element einer gemeinsamen Moral. Drittens<br />
ist eine freistehende Konzeption dabei unabhängig von einzelnen weltans<strong>ch</strong>auli<strong>ch</strong>en Konzeptionen<br />
<strong>der</strong> Moral begründet. Viertens muß sie sämtli<strong>ch</strong>e als relevant behauptete Argumente berücksi<strong>ch</strong>tigen.<br />
134 N. Jansen, Validity of Public Morality (1988), S. 10; <strong>der</strong>s., Struktur <strong>der</strong> <strong>Gere<strong>ch</strong>tigkeit</strong> (1998), S. 267 ff.<br />
Ähnli<strong>ch</strong> zum Potential <strong>der</strong> Abwägung unter Prinzipien, wenn au<strong>ch</strong> an<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Analyse des<br />
Abwägungsvorgangs: J.-R. Sieckmann, Zur Begründung von Abwägungsurteilen (1995), S. 45 ff.<br />
(46 ff.).<br />
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