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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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„Anne und ich sind eine <strong>Ein</strong>heit und haben zusammen eine Krankheit“<br />

Schwerstkranke Mitmenschen sind von dem Wohlwollen ihrer Umwelt<br />

vollkommen abhängig. Ihnen wird oft das Gefühl vermittelt, eine Last zu sein.<br />

Es geht auch anders.<br />

Wenn über Erkrankungen geredet wird, fällt häufig eine Gruppe von<br />

Betroffenen unter den Tisch: Dabei handelt es sich um die schwersten Fälle,<br />

Menschen, die vollkommen von der Pflege anderer Menschen abhängig sind.<br />

Ärzte und Patientenvertretungen zeigen die erforderliche Dosis Mitleid, sind<br />

aber froh, wenn sie diese Patienten nicht länger sehen müssen.<br />

In den meisten Fällen werden diese Menschen von Angehörigen betreut. Der<br />

Staat verläßt sich darauf, denn es würde ihn eine riesige Stange Geld kosten,<br />

diese Kranken menschenwürdig zu pflegen. <strong>Ein</strong>en Dank erhalten die<br />

Angehörigen nicht.<br />

<strong>Ein</strong> bemerkenswerter Fall von Betreuung ist aus der niedersächsischen<br />

Kleinstadt Bad Nenndorf zu bekannt. Dort leben in einem großzügigen Haus<br />

der gelernte Maurer und ehemalige Matrose Heribert Schulte (53) und seine<br />

Frau Anne Boule (50) zusammen. Die Baustoffkauffrau Anne leidet seit 1975<br />

an Multipler Sklerose und ist heute schwer von dieser Krankheit gezeichnet.<br />

Heribert über Anne: „Das einzige was sie noch bewegen kann, ist ihre Zunge.<br />

Die Augen haben noch eine Sehfähigkeit von rund 30 Prozent.“<br />

Die beiden lernten sich 1979 während einer Kur kennen. Anne ging es damals<br />

noch verhältnismäßig gut. Heribert heute: „Ich wußte sehr schnell, was MS<br />

bedeutet. Ich wußte auch, was noch kommen kann. Aber ich habe von Anfang<br />

an unterschieden zwischen Anne und der Krankheit. Es war für uns immer<br />

klar, daß wir beide eine <strong>Ein</strong>heit sind und zusammen eine Krankheit haben.“<br />

Annes Krankheit spielte keine große Rolle für Heribert. „Das war auch<br />

vollkommen unbedeutend für uns beide. Als ich zu Anne sagte: 'Ich liebe<br />

Dich', habe ich nicht die <strong>Ein</strong>schränkung gebraucht, solange Du noch laufen<br />

kannst“ erinnert sich Heribert. Doch die Krankheit ging weiter voran. Ab 1985<br />

mußte Anne den Rollstuhl benutzen.<br />

„Das war eine schlimme Zeit“, berichtet der geborene Soester: „Anne konnte<br />

noch relativ gut gehen. Ärzte schwatzten uns eine Imurek-Therapie auf. Man<br />

sagte uns, dieses Medikament hätte keine Nebenwirkungen. Anne versuchte<br />

es und von da an setzte eine enorme Verschlechterung ein. Das Zeug trieb<br />

sie in den Rollstuhl.“<br />

Heribert lebt heute weitestgehend für Anne. Er pflegt sie, dreht sie nachts im<br />

Bett um, macht Ausflüge und sucht neue Therapiemöglichkeiten, die einen<br />

Hoffnungsschimmer bewirken könnten. Aber auch seine Lebensgeschichte ist<br />

von einer Krankheit gezeichnet. Heribert ist Alkoholiker. 1978, noch bevor er<br />

Anne kennenlernte, überwand er die Alkoholabhängigkeit.<br />

Seitdem ist Heribert trocken. „Ich erkannte eines Morgens, daß ich nicht mehr<br />

lange leben würde, wenn ich weiter saufen würde. Der Entschluß, diese Droge<br />

nicht mehr zu nehmen, war gefaßt. Hilfe erhielt ich vom Guttempler-Orden.<br />

Dieser Orden vertritt eine abstinente Lebensweise, also ein Leben ohne<br />

Drogen und Medikamente. Wenn mich heute Leute auf meine Sucht<br />

ansprechen, sage ich ihnen immer: Wer den Beruf 'Mensch' zu sein ausübt,<br />

hat auch das Recht, Fehler zu machen.“<br />

Wer die beiden in Bad Nenndorf besucht, hat nicht den <strong>Ein</strong>druck, daß sich<br />

dort eine Leidensgeschichte abspielt. Das Leben bei Anne und Heribert ist<br />

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