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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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erzielt, der Verlauf einer MS vielleicht über längere Zeit angehalten und<br />

verändert werden.“<br />

Diese Überlegung wurde von den Behringwerken überhört und später<br />

zurückgewiesen. Man schaltete die Gesundheitsbehörden ein und drohte mit<br />

üblen Konsequenzen. Beobachter versuchten, den Konflikt zu analysieren: „Im<br />

Falle einer Zulassung verdient der Verkäufer von Medikamenten natürlich<br />

mehr Geld bei hohen Dosierungen. Niedrige Dosierungen bedeuten weniger<br />

Umsatz. Doch im Sinne der Patienten und angesichts möglicher<br />

Nebenwirkungen sollte die objektiv beste Dosierung gefunden werden. Man<br />

nimmt bei Kopfschmerzen nicht 10 Aspirin, sondern ein oder zwei.“ Doch die<br />

Verantwortlichen bei den Behringwerken blieben stur. Man startete die<br />

klinische Studie mit drei Gruppen: 2 mg/kg KG, 6 mg/kg KG und einer nicht zu<br />

beneidenden Placebogruppe.<br />

Was auf den ersten Blick Sinn zu haben scheint, war ein großer<br />

wissenschaftlicher Patzer. Gewöhnlich wird im Vorfeld einer klinischen<br />

Arzneimittelstudie mit dem Präparat eine Dosisfindungsstudie durchgeführt.<br />

An einer kleineren Patientengruppe werden verschiedene Dosen ausprobiert,<br />

um die günstigste zu ermitteln.<br />

Dieser Vorgang zählt zu den Grundregeln der pharmazeutischen<br />

Wissenschaft und zu den elementaren Voraussetzungen einer<br />

Arzneimittelzulassung. Wer sich an diese Regel nicht hält, braucht sich nicht<br />

zu wundern, wenn er von der Zulassungbehörde in rauhem Ton wie ein<br />

dummer Schuljunge vor Vertretern <strong>des</strong> Deutschen Bun<strong>des</strong>tages<br />

zurechtgewiesen wird. Diesen und andere Vorwürfe mußte sich eine<br />

Behringdelegation bei einem Gespräch im Bun<strong>des</strong>institut für Arzneimittel und<br />

Medizinprodukte in Berlin anhören.<br />

Die umstrittene Dosierung der zwei Behandlungsgruppen ist nicht nur infolge<br />

der fehlenden Dosisfindungsstudie entstanden. Vielmehr wurden schon bei<br />

den Vorüberlegungen und Planungen zur DSG-Studie einige wichtige Fakten<br />

falsch eingeschätzt. Man ging davon aus, daß die Substanz wegen ihrer<br />

Eigenschaft, Abstoßungskrisen nach Organtransplantationen zu verhindern,<br />

das Immunsystem unterdrückt. Diese Eigenschaft wird als Immunsuppression<br />

bezeichnet. Doch das DSG scheint, wie eine Reihe von experimentellen<br />

Voruntersuchungen zeigte, Eigenschaften zu besitzen, die neben einer<br />

Suppression weitergehende Wirkungen auf das Immunsystem ausüben.<br />

Diese wurden nicht beachtet. Mit einer weitgefächerten Dosisfindungsstudie<br />

wären automatisch diese Fragen aufgetaucht. Warum forschte man nicht<br />

gründlich, bevor man eine klinische Studie begann? Diese Frage versucht ein<br />

MS-Patient, ebenfalls Arzt in Niedersachsen, zu beantworten: „Anfang der<br />

neunziger Jahre gab es wenig Phantasie in der MS-Forschung. Kortison,<br />

Imurek und Beta-Interferon. Neuere Überlegungen mußten sich daran messen<br />

lassen, ob das Ziel die Unterdrückung <strong>des</strong> Immunsystems gewesen war. Man<br />

dachte, ein unterdrücktes und geschwächtes Immunsystem entwickle die<br />

Krankheit langsamer. Das hört sich sehr hilflos an, war aber die herrschende<br />

Meinung in der Neurologie. Leider hat sich heute auch nicht sehr viel daran<br />

geändert. Demnach mußte sich eine klinische Studie diesen Überlegungen<br />

anpassen. Den Behringwerken, die vorher nie eine MS-Studie durchgeführt<br />

hatten, paßten sich dieser These zwangsläufig an. Hätten sie dies nicht getan,<br />

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