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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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ausgelöste Erkrankung einzustufen.1 Obwohl den Kranken eine „biologische<br />

Minderwertigkeit“ unterstellt wurde, fielen sie nicht unter die einschlägigen<br />

Gesetze2 (siehe hierzu S. 10).<br />

Bislang ist nicht geklärt, ob und in welchem Ausmaß schwerst<br />

pflegebedürftige MS-Kranke Opfer der „Euthanasie“-Morde wurden. Die<br />

<strong>Ein</strong>ordnung der Krankheit als Unterform der Enzephalitis war in der Forschung<br />

umstritten. Arbeitsunfähige Enzephalitis-Patienten aber unterlagen der<br />

Meldepflicht gemäß dem Runderlaß <strong>des</strong> Reichsinnenministers vom 9. Oktober<br />

1939, der Vorstufe zur Verschickung in die Tötungsanstalten. Die führenden<br />

Experten der damaligen Zeit (wie Schaltenbrand und Pette) betonten, daß die<br />

MS grundsätzlich rückbildungsfähig sei und viele Kranke ihre Arbeitsfähigkeit<br />

bewahrten. Prognosen, die MS führe in schweren Fällen zum geistigen Verfall,<br />

rückten die Kranken jedoch in gefährliche Nähe zu den der Vernichtung<br />

preisgegebenen „Ballastexistenzen“. So hieß es, die Krankheit könne in<br />

„gelegentlich vorkommenden Störungen vom Charakter manisch-depressiven<br />

Irrseins“ enden, wodurch die Kranken zu unberechenbaren Handlungen<br />

verleitet seien3.<br />

Im März 1941 wurde die Definition der „Eutha-nasie“-Opfer auf fast alle, „die<br />

unfähig sind, auch nur in Anstalten produktive Arbeit zu leisten“ 4 ausgedehnt.<br />

In einzelnen Anstalten schlugen die zuständigen Ärzte zudem Schwerkranke<br />

nach eigener Willkür zur Tötung vor. Die Frage, inwieweit MS-Kranke Opfer<br />

der „Euthanasie“ wurden, könnte nur mit der Durchsicht der damaligen<br />

Gutachterakten geklärt werden.<br />

Die Neurologen, die im folgenden portraitiert werden, haben sich in der NS-<br />

Zeit und in der Bun<strong>des</strong>republik durch Forschungen zur MS oder auch durch<br />

die Mitarbeit in der DMSG hervorgetan. Als Universitätsprofessoren und Leiter<br />

von Forschungsinstituten stellten sie ihre Fähigkeiten in den Dienst <strong>des</strong> NS-<br />

Regimes oder profitierten in ihrem wissenschaftlichen Eifer von den<br />

Aussonderung und Ermordung der Geisteskranken.<br />

Menschenversuche an Behinderten<br />

Georg Otto Schaltenbrand (1897 bis 1979)<br />

Schaltenbrand galt als einer der bedeutendsten deutschen Neurologen und<br />

MS-Forscher seiner Zeit. Von 1938 an ordentlicher Universitätsprofessor in<br />

Würzburg, widmete er sich vordringlich der Ursachenforschung zur MS. 1967<br />

ernannte ihn die Deutsche Neurologische Gesellschaft zum Ehrenpräsidenten.<br />

Mit seiner Initiative wurde 1953 der Ärztliche Beirat der DMSG gegründet,<br />

<strong>des</strong>sen erster Vorsitzender er war. Die DMSG ernannte ihn 1967 zum<br />

Ehrenvorsitzenden. So war er eine Autorität als Neurologe und<br />

gesellschaftlich ein hochgeachteter Forscher. Seine 1943 veröffentlichte MS-<br />

Studie5, für die er sich die Aufkündigung <strong>des</strong> Lebensrechts geistig Behinderter<br />

durch den NS zunutze gemacht hatte, wurde konsequent übersehen.<br />

Schaltenbrands Forschungen zur MS basierten auf seiner These, ein Virus<br />

löse die Krankheit aus. Um Infektionen nachzuweisen, leitete er 1935 an der<br />

Universitäts-Nervenklinik Würzburg – gefördert durch die Deutsche<br />

Forschungsgemeinschaft – ein Experiment an Affen ein, das zunächst im<br />

Tierversuch den übertragbaren Markscheidenschwund nachweisen sollte.<br />

Verschiedenen Affenarten impfte er den Liquor von MS-kranken Menschen in<br />

die Zisterne. An den Tieren beobachtete er daraufhin einen Anstieg der<br />

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