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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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emerkte dabei, daß meine Eltern nicht ganz klar zu erkennen<br />

waren. Es waren Doppelbilder.<br />

Ich hatte keine Wahl, ab ins Krankenhaus. <strong>Ein</strong>e Untersuchung<br />

folgte der nächsten. Dann gab es Spritzen und Tabletten, nach<br />

drei Tagen ging es mir viel besser und ich wollte schon nach<br />

Hause, aber ein Arzt sagte, da wäre noch eine Untersuchung über<br />

die er mit mir sprechen möchte. In seinem Zimmer hörte ich dann<br />

das erste Mal die Worte Multiple Sklerose. Ich wußte nicht, was<br />

die Krankheit exakt bedeutete, aber ich hatte schon davon gehört.<br />

Es war mein To<strong>des</strong>urteil! Ich fragte den Arzt, wie lange ich noch zu<br />

leben hätte? Er lächelte und meinte, das kann er nicht sagen, es<br />

gibt viele gutartige Verläufe.“<br />

Viele Patienten der Untersuchungsgruppe berichten über einen Zustand „wie<br />

im Film“ während der Arzt ihr „To<strong>des</strong>urteil“ ausspricht. Auch über völlig<br />

unerwartete Spontanreaktionen liegen Aussagen vor. Insgesamt scheint es so<br />

zu sein, daß einige Ärzte über wenig Zeit und <strong>Ein</strong>fühlungsvermögen verfügen,<br />

um die Patienten in dieser schwierigen Lebenslage zu unterstützen.<br />

Sebastian, Ende 30 und selbständig erlebte die Diagnose so:<br />

„Ich bin immer wie besoffen über die Straße gegangen. Auch mit<br />

dem Bergsteigen mußte ich vorsichtiger werden. Für Arztbesuche<br />

hatte ich eigentlich keine Zeit. Dann überredete mich meine<br />

damalige Frau doch. Untersuchungen und ein neuer Termin beim<br />

Neurologen. Ich sagte, daß ich heute wenig Zeit hätte, er solle sich<br />

bitte beeilen. ‚Sie werden jetzt viel Zeit für sich brauchen, denn der<br />

Verdacht auf Multiple Sklerose hat sich erhärtet‘, erklärte er.<br />

Und er hatte recht. Ich nahm die Herausforderung MS an und<br />

stellte mein Leben um. Die Firma verkaufte ich und hatte nur noch<br />

die Krankheit im Kopf. Ich wollte sie besiegen. Ob das geklappt<br />

hat, weiß ich nicht. Doch ich werde mich nicht so leicht geschlagen<br />

geben.“<br />

Bisherige Beschwerden, die keiner Krankheit zugeordnet werden konnten,<br />

bekommen endlich einen Namen. <strong>Ein</strong> neues Kapitel beginnt, neue Aufgaben<br />

kommen auf die Betroffenen zu und sie „wollen kämpfen“.<br />

Andere Untersuchungsteilnehmer berichten aber auch darüber, daß sich<br />

ziemlich schnell die graue „Masse der Hoffnungslosigkeit“ über sie<br />

ausbreitete. Oft wird die Bedeutung der Diagnose gar nicht reflektiert, weil<br />

keine Kenntnisse über die Krankheit vorliegen oder eine Schockphase eintritt.<br />

Kurz nach der Realisierung der Diagnose tritt häufig ein Enttäuschungsgefühl<br />

beim Patienten auf. Das Leben, so wie es bisher geplant war und weitergehen<br />

sollte, wird in andere Bahnen gelenkt. Die bisherigen Beschwerden wurden<br />

als vorübergehend interpretiert und als reparabel eingestuft. Die Enttäuschung<br />

über eine unabänderliche Krankheit weicht in einigen Fällen einer Trauer über<br />

die eigene Existenz. <strong>Ein</strong>e ungewisse Zukunft, mögliche Schmerzen und eine<br />

drohende Pflegebedürftigkeit werden zu belastenden Gedanken. Die vielen<br />

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