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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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Universitätsnervenklinik in Tübingen und bekam das Große<br />

Bun<strong>des</strong>verdienstkreuz verliehen. Die Gutachter Heinze und Catel wurden<br />

Leiter der psychiatrischen Klinik in Wunstorf bzw. Ordinarius für<br />

Kinderheilkunde an der Universität Kiel.<br />

Nach Kriegsende wurden sowohl von alliierten als auch von deutschen<br />

Gerichten harte Strafen gegen Ärzte und Oberschwestern ausgesprochen. So<br />

endete der Nürnberger Ärzteprozeß für sechs Ärzte mit dem To<strong>des</strong>urteil<br />

wegen der begangenen Menschenversuche und ihrer Mitwirkung an der<br />

„Euthanasie“. Vor dem Berliner Schwurgericht wurden 1946 eine Ärztin und<br />

eine Oberschwester wegen verabreichter To<strong>des</strong>spritzen mit dem Tode<br />

bestraft. Paul Nitsche als zeitweiliger Leiter der Anstalt von Brandenburg-<br />

Görden und „Euthanasie“-Gutachter büßte nach einem Prozeß in Dresden<br />

1947 seine Taten ebenfalls mit dem Tode.<br />

Für diese Gerichte war es unproblematisch gewesen, die Tötungshandlungen<br />

als Morde anzusehen, da sie die nationalsozialistische Praxis der<br />

„Euthanasie“ auf der Grundlage seiner rassistischen Ideologie ohne weiteres<br />

als verbrecherisch beurteilten. Ärzte unterstanden dem hippokratischen Eid,<br />

so daß es ihre moralische Pflicht gewesen wäre, sich Tötungen aufgrund von<br />

Gutachten zu verweigern.<br />

Nach 1949 war jedoch vor bun<strong>des</strong>deutschen Gerichten mit dieser „simplen“<br />

Argumentation Schluß. Nun sollte es für Strafverteidiger einfacher werden, die<br />

Tötungshandlungen rechtlich zu hinterfragen. Freisprüche waren nicht<br />

selten.10 Die alten Funktionseliten aus der Zeit <strong>des</strong> Nationalsozialismus<br />

waren in ihre Ämter zurückgekehrt. Es herrschte – nicht nur in solchen<br />

Strafprozessen – eine unausgesprochene kollektive Übereinstimmung: Man<br />

hatte am Nationalsozialismus partizipiert, sich jedoch damit nie identifiziert.<br />

Nur so ist erklärbar, daß ein führender medizinischer Funktionär der NS-<br />

„Euthanasie“, Prof. Dr. Werner Heyde, jahrelang in einer amtsärztlichen<br />

Stellung in Schleswig-Holstein praktizieren konnte, obwohl ihn sein<br />

Pseudonym „Dr. Sawade“ gar nicht tarnte. In der Medizinalverwaltung und im<br />

Kollegenkreis wußte jeder um seine Vergangenheit, aber man schützte ihn.11<br />

Die deutsche Nachkriegsgesellschaft übte sich in diesem schweigenden<br />

Konsens, der heute gerne als notwendige Voraussetzung für den Aufbau <strong>des</strong><br />

Lan<strong>des</strong> und der Demokratie gewertet wird. Die schreckliche Geschichte ist<br />

zwar historisch erforscht und aufgearbeitet. Doch Opfer als Mord-opfer bleiben<br />

bis heute anonym, und so wird man das Gehirn von Valentina Zacheni wohl<br />

noch lange in einem der Standardwerke der Neurologie betrachten können.<br />

Nachweise und Anmerkungen<br />

1 K. Binding, A. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebens-unwerten<br />

Lebens: Ihr Mass und ihre Form, Leipzig 1920.<br />

2 E. Klee, „Von der ‘T4’ zur Judenvernichtung. Die ‘Aktion Reinhard’ in den<br />

Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka.", in: Aktion T4 1939-1945.<br />

Die "Euthanasie"-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, hg. von Götz Aly, Berlin<br />

1989, S. 147-152.<br />

3 Siehe die Abbildung <strong>des</strong> Schreibens Hitlers, das er auf den 1. 9. 1939<br />

zurückdatierte, in: Aktion T4, hg. von Götz Aly, S. 14.<br />

4 Grundlegend dazu E. Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung<br />

lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. Main, 1983.<br />

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