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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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übereinstimmenden Berichte über diese Gefühle zeigen, daß in dieser Phase<br />

ein starker psychologischer Betreuungsbedarf besteht. Doch leider kommt der<br />

Medizinapparat in der Praxis diesem Bedarf nur selten nach. Spätere<br />

psychologische Angebote zielen auf die Bewältigung der Krankheit, aber nicht<br />

auf die Erstversorgung der frisch diagnostizierten Fälle.<br />

Unmittelbar nach der Diagnose wird von auftretenden Depressionen berichtet.<br />

Die Patienten verfallen in geistige Bewegungslosigkeit und dämmern oder<br />

träumen in den Tag hinein. Der Sinn und Zweck eines „normalen“ Lebens ist<br />

verloren gegangen. Patienten erwarten einen schnellen Tod und sehnen ihn<br />

herbei. So wird in einem Tagebuch berichtet, daß die Depressionen nie völlig<br />

verschwinden, es gehe nur darum, sie zu kontrollieren und zu managen.<br />

Angetrieben von dem im Hintergrund diffus präsenten Gedanken „nur nicht<br />

aufgeben“ erscheint die Teilnahme am „normalen Leben“ nur als eine<br />

Voraussetzung zur Erhaltung der Hoffnung: „Es muß ja nicht so schlimm bei<br />

mir werden“. Versuche von Angehörigen Hilfe zu leisten werden wenig<br />

wahrgenommen. Auch von Trotzreaktionen ist berichtet worden. Die<br />

Nahrungsaufnahme wurde reduziert.<br />

Das Gefühl von Wertlosigkeit macht sich stärker breit. Diese Phase, die<br />

unmittelbar nach der Diagnose einsetzen kann, verläuft unterschiedlich lang<br />

und intensiv. Sie gipfelt möglicherweise in einem Suizidversuch. <strong>Ein</strong> Patient<br />

sah keinen Ausweg und nahm sich, mit in das Fahrzeug hineingeleiteten<br />

Auspuffabgasen, das Leben. 169 Die auf die Diagnose einsetzende<br />

Depressionsphase geht unterschiedlich schnell in eine Phase der<br />

Krankheitsakzeptanz über. Hier ist der Patient zwar nicht frei von<br />

Depressionen, jedoch sind ihm diese bekannt und er hat einen Weg gefunden,<br />

damit umzugehen. Auch in diesem Zusammenhang bleibt festzustellen, daß<br />

eine medizinische und psychologische Erstversorgung nach der Diagnose<br />

verstärkt werden müßte. In der ärztlichen Fachliteratur wird das Problem zwar<br />

genannt, aber in der Praxis selten zufriedenstellend gelöst. Demnächst wird<br />

die Arbeit von Arnold Langenmayr und Norbert Schöttes veröffentlicht. Die<br />

Autoren führten unter dem Titel „Gruppenpsychotherapie mit MS-Kranken“<br />

eine Untersuchung mit 46 MS-Kranken durch, die zeigt, daß die<br />

Psychotherapie nach der Diagnose einen positiven <strong>Ein</strong>fluß auf die kognitiven<br />

Beeinträchtigungen besitzt. Auch eine Verbesserung der körperlichen<br />

Funktionen wurde beobachtet. 170 Geht man davon aus, daß<br />

psychotherapeutische Maßnahmen im Verlauf dieser Krankheit einen<br />

positiven Effekt haben können, dann muß dies erst recht auch für den<br />

Zeitpunkt der Diagnosestellung gelten.<br />

169 <strong>Ein</strong>zelheiten über diesen Fall: Tycher, Michael und Fasel,<br />

Christoph, „Selbstmord nach Arzneientzug“, Stern, 14. 9. 1995, Nr.<br />

38, S. 202f.<br />

170 Die Ergebnisse der Studie werden im Laufe <strong>des</strong> Jahres 2000<br />

veröffentlicht in: „Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik“. Den<br />

Autoren wurde dankenswerterweise ein Vorabdruck zur Verfügung<br />

gestellt.<br />

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