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Ein Entwurf des publizistischen Kriteriums „Sensibilität“

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„Mir ging es eigentlich gar nicht so schlecht. Meine Beine waren<br />

nicht mehr gelähmt, das Medikament hatte gewirkt. Unsere alte<br />

Bowlingtruppe traf sich, um die letzten Vorbereitungen für die<br />

anstehende Pfingstreise zu treffen. Wir saßen in unserer<br />

Stammkneipe und plötzlich überkam mich ein noch nie<br />

dagewesenes Gefühl der Sinnlosigkeit. Über mein Leben hatte<br />

sich eine schwarze, dicke Masse gelegt. An Bowling hatte ich kein<br />

Interesse mehr. Ich verließ die lustige Runde und fuhr in meine<br />

Wohnung. Ich fuhr nicht mit über Pfingsten. Von da an wollte ich<br />

keine Menschen mehr sehen, auch meinen Bruder schickte ich<br />

nach kurzer Zeit fort mit den Worten, er solle nie wieder kommen.<br />

Im Winter unternahm ich dann meinen ersten Selbstmordversuch,<br />

aber es klappte nicht, der selbstgebraute Giftcocktail war wohl so<br />

stark, daß ich mich ganz schnell übergeben mußte. Noch während<br />

ich zwischen Tod und Leben dahinkauerte, ging die Tür auf, und<br />

mein Bruder kam mit dem Schlüssel meiner Eltern auf mich zu.<br />

Also auch zu dumm zum Sterben, dachte ich. Ich muß wohl<br />

damals für meine Umwelt sehr schwierig gewesen sein.“<br />

Diese Befunde sind nicht unbekannt. Bereits 1983 untersuchte Peter Denecke<br />

im Rahmen einer empirischen Studie die Bewältigung einer chronischen<br />

Krankheit in den Familien am Beispiel von Multiple Sklerose-Kranken und<br />

ihrer Verwandten. Dabei entdeckte er auch die „unzufriedenen Kranken“ 179<br />

und stellte fest: „Alle Äußerungen dieser Kranken, die sich auf den Partner<br />

und <strong>des</strong>sen Haltung zur Krankheit beziehen, stellen zugleich eine an seine<br />

Adresse gerichtete Kritik bzw. einen Vorwurf dar und weisen darauf hin, daß<br />

es im Zusammenhang mit der Krankheit und dem gemeinsamen Umgang mit<br />

ihr zu dauerhaften innerfamilialen Konflikten kommt“. 180 Denecke sieht die<br />

Motive für die Unzufriedenheit einerseits im mangelnden Verständis der<br />

Umwelt für den Kranken und andererseits in der Familie. 181<br />

<strong>Ein</strong> weiteres Projekt, das sich mit der Situation von Angehörigen Multiple<br />

Sklerose-Kranker befaßt, steht kurz vor dem Abschluß. Vom Pädagogischen-<br />

Institut der Universität Bamberg wurden 208 Fragebögen verschickt, um unter<br />

anderem zu ermitteln, welche Ressourcen zur Stabilisierung der<br />

Familiensituation herangezogen werden können. 182<br />

179 Denecke, Peter, Chronische Krankheit und Familiendynamik: <strong>Ein</strong>e<br />

empirische Untersuchung von Formen der innerfamilialen Bewältigung<br />

einer chronischen Krankheit am Beispiel von Multiple Sklerose-<br />

Kranken, Göttingen 1983, S. 446 ff. Dagegen spricht die Auffassung<br />

von Anton Smits, der durch den Umgang der Familienangehörigen<br />

untereinander einen <strong>Ein</strong>fluß auf die Möglichkeit sieht, krank zu<br />

werden. Familie und Krankheit: <strong>Ein</strong>e theoretische Übersicht, in:<br />

Psychosozial, 1981, Heft 3, S. 72f.<br />

180 Denecke, S. 446.<br />

181 Denecke, S. 450.<br />

182 Brief der Bearbeiterin Ruperta Mattern vom 24. 1. 2000 an die<br />

Autoren. Der Leiter der Arbeit ist Prof. Dr. Georg Hörmann,<br />

Universität Bamberg, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik.<br />

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