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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 113<br />

Jahren während den langfristigen Einberufungen in der Moldau kennen gelernt.<br />

Jung, wohlgenährt, vor Kraft und Vitalität sprühend, aber den Umständen<br />

entsprechend abstinent. Worüber sprachen sie damals, in den Pausen zwischen<br />

den Übungen? Über Frauen, natürlich. Worüber hätten sie sonst auch reden<br />

sollen, als darüber, was ihnen gerade fehlte? Die sexuelle Abstinenz von damals,<br />

der Hunger von jetzt, da sieht man, wie die Physiologie die Natur der<br />

gedanklichen Beschäftigungen sowie der Konversationsthemen diktierte, so dass<br />

es recht belustigend war, jene, die vormals von pikanten Abenteuern erzählten,<br />

nunmehr von pikanten Saucen sprechen zu hören. Allerdings war dies alles nicht<br />

nur lustig. Wir befanden uns vor einem Phänomen kollektiven Irrsinns, den der<br />

Hunger hervorgerufen hatte, welches nicht nur in unserem Lager, sondern in<br />

allen Lagern und Gefängnissen der UdSSR auftrat, genauso wie auch zu Hause<br />

in Rumänien, als der Hunger höchste Ausmaße erreichte. Woher auch<br />

festzustellen wäre, dass hochgradiger Hunger ernsthaft die Aktivität der Hirnrinde<br />

beeinträchtigen kann. Das Hungersynd<strong>ro</strong>m zeigt sich durch gestörte<br />

Urteilsmechanismen, geschwächtes Gedächtnis, verminderte Fähigkeit, die<br />

Werte, vor allem die moralischen, zu erkennen, es führt zu abwegigem Verhalten<br />

und in einem fortgeschrittenen Stadium begleitet es die Wahrnehmung der<br />

Umwelt mit einem Gefühl des Illusorischen. Die Wirklichkeit beginnt, dir als<br />

unwirklich zu erscheinen. Die Sowjets haben mit der ihnen charakteristischen<br />

Geduld das Phänomen auf unsere Kosten, der Gefangenen, auf Kosten von<br />

Millionen von Häftlingen studiert und durchaus pragmatisch, wie sie nun einmal<br />

waren, daraus politischen Nutzen gezogen. Wir aber, jedenfalls ein Teil von uns,<br />

erlaubten es uns, in diesem Experiment nicht nur Versuchskaninchen, sondern<br />

auch Beobachter und Analysten zu sein. Im Laufe unserer langjährigen<br />

Gefangenschaft hatten wir das sinistre Privileg, am eigenen sowie am Leibe der<br />

Kameraden aus anderen Nationen zu verfolgen, wie unsere Funktionen, ob nun<br />

die somatischen oder die psychischen und geistigen, auf die völlig anormalen<br />

Bedingungen der „sowjetischen Gefangenschaft“ reagierten. Ich habe<br />

Gänsefüßchen verwendet, um sie von anderen „Gefangenschaften“ zu<br />

unterscheiden, besaß sie doch diesen gegenüber ein total unterschiedliches<br />

Spezifikum. Dieses besteht in erster Linie in dem, was die Macht sich zum Ziel<br />

gesetzt hatte: aus jedem Gefangenen einen Menschen zu machen, der von ihr<br />

zur Gänze und ohne Umkehrrisiko annektiert worden ist. Dafür musste der<br />

Mensch vorerst auseinander genommen werden, um aus ihm das Werteschema<br />

wegzuwischen, das ursprünglich seiner Bildung zugrunde lag, und dann wurde er<br />

neu zusammengebaut, nach einem anderen axiologischen Schema, in dem alle<br />

Werte in ihr Gegenteil gekehrt auftauchen und die Anormalität die normalen<br />

Existenzbedingungen darstellt. Diese Operation kann nur durchgeführt werden,<br />

indem man das Individuum an die Schnittstelle starker Druckfaktoren placiert,<br />

allen voran der Hunger, gefolgt von Zwangsarbeit, Kälte, Ter<strong>ro</strong>r, Desinformation,<br />

Gehirnwäsche und von der „Perfusion“ mit Ideologie. Wissenschaftlich und<br />

nuancengerecht von Fall zu Fall angewandt, führen die konjugierten Aktionen<br />

dieser Faktoren im Innern der Subjekte zu gewissen psychomentalen<br />

Mutationen, auf dass am Ende derselben, gleich einem von einer quantitativen<br />

Akkumulation hervorgerufenen Qualitätssprung, der neue Mensch in<br />

Erscheinung trete.

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