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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 467<br />

anderen Lagern der Fall war, wie wir später erfahren sollten, gelangten von dort<br />

doch einzelne unserer Jungs vor Militärtribunale und in die Lager am Polarkreis.)<br />

Mit uns aber gingen sie wie mit einer „reifen Beule“ um, zufrieden damit, wenn<br />

wir ihnen keine Golodkowka (Hungerstreik) für die Repatriierung erklärten. Was<br />

wir, die 25 Übriggebliebenen aus der Orankier Schockgruppe, realistisch<br />

gesehen, auch nicht mehr zu tun die Kraft besaßen. Es existierten zwar noch<br />

innere Kampfreserven, aber bloß noch defensive. Diese hätten wir gar mit<br />

Erbitterung mobilisiert – aber nur für den Fall, dass man den wunden Punkt<br />

attackierte: das Recht darauf, nicht arbeiten zu müssen, das wir uns mit viel Leid<br />

im Teufelsloch erkämpft hatten. Aber „sie“ p<strong>ro</strong>vozierten uns auch in dieser<br />

sensiblen Sache nicht mehr, und auch nicht mehr in anderen. Man ließ uns im<br />

eigenen Saft schmoren.<br />

Also denn, umgebracht wurden wir nicht – so wie sie es in Katyn mit den<br />

polnischen Offizieren getan hatten, wir wurden nicht deportiert, nicht repatriiert.<br />

Unsere Situation war in der Schwebe. Bis wann bloß? „Sie“ hatten keinerlei<br />

Interesse an einer Lösung, und aus der Welt jenseits des „<strong>ro</strong>ten Wales“, in<br />

dessen Bauch wir gefangen waren, kam kein glaubwürdiges Zeichen für eine<br />

Lösung der Blockade. Alles war suspendiert. Nichts passierte mehr. Sogar die<br />

Zeit war gestorben. Geboren aber wurde die Frage: „Was passiert denn dann,<br />

wenn nichts mehr passiert?“ Was passiert, wenn die Leiche der „toten Zeit“ im<br />

„Sumpf der Verzweiflung“ verwest?<br />

Wenn nichts mehr passiert, öffnet sich am Grunde unseres Inneren der<br />

Schlund des originären Nichts, das einen mit seinen Armen der Zweifel und<br />

Verzweiflung zu sich hinunterzieht. In dieser Situation packte ich mich gleich<br />

Ba<strong>ro</strong>n Münchhausen am eigenen Schopfe und zog mich kräftig nach oben, so<br />

hoch hinaus, wie nur irgend möglich, hin zur goldenen Himmelshöhe der idealen<br />

Fiktionen und – unglaubwürdig wohl, aber wahr – schaffte es, indem ich mir dort<br />

oben eine Welt lichter Mythen errichtete, in die ich flüchten und wo ich mich vor<br />

dem Sog des Sumpfes retten konnte.<br />

Als Selbstverteidigung gegen die Aggression des „Hässlichen“ (nicht des<br />

ästhetischen, sondern des existentiellen, als Ausdruck des Nichts), als eine<br />

Exorzisierung der Verzweiflung, die ja bereits ihr Werk begonnen hatte, trat an<br />

dieser letzten, aber auch gefährlichsten Schwelle meiner Gefangenschaft für<br />

mich erneut die Notwendigkeit des poetischen Diskurses auf den Plan.<br />

So nahm damals im Verborgenen meiner Innenwelt ein langes und<br />

bewegtes dramatisches Poem mit apokalyptischer Öffnung Gestalt an, das<br />

eingangs den Titel „Die Söhne des Lichts“ trug, dann „Magog“ hieß und das ich<br />

1980 in Paris, in der Wohnung meiner im Exil lebenden Kinder fertig stellte. Und<br />

dort verblieb es auch.<br />

Meine Kameraden und Teamkollegen schließlich, mit denen zusammen<br />

ich im selben Boot den Zeitst<strong>ro</strong>m hinunter geschifft war, kamen mit dieser<br />

terminlosen Stationierung in den abgestandenen und schlammigen Wassern des<br />

letzten Hafens auf die eine oder andere Weise auch zurecht. Wie gewöhnlich<br />

gingen sie dazu über, sich dem Studium der Fremdsprachen, verschiedener<br />

Wissenschaften, dem Lesen zu widmen; manche spielten Bridge, Domino,<br />

Rummy, und ein jeder versuchte, zu vergessen. Zu vergessen, dass das Leben –<br />

ohne uns und gegen uns – weiterging, uns an seine Ränder drängte, unsere

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