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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 148<br />

36. „DIE MANNEQUINS DES WEIßEN TODES“<br />

Der zweite Moment: Ein etwas weniger f<strong>ro</strong>stiger Morgen, Anfang März.<br />

Zusammen mit ein paar Jungs verrichteten wir eine Drecksarbeit: Eishacken auf<br />

der Allee vor einem aus Holz gebauten Warenhaus. Plötzlich fuhren zwei jener<br />

Schlitten durchs Lagertor, mit denen die Toten transportiert wurden, und kamen<br />

auf uns zu. Sie waren leer, hatten aber einige deutsche Sanitäter und allen voran<br />

den Totengräber-Tschassowoj dabei, der aus p<strong>ro</strong>phylaktischen Gründen<br />

permanent betrunken war. Sie hielten vor dem Warenhaus und traten zu der mit<br />

Latten zugenagelten Tür. Nach fruchtlosen Versuchen, diese zu öffnen, forderte<br />

der Russe einem von uns die Brechstange, mit der dieser das Eis traktierte.<br />

Nach weiteren Bemühungen, brach der Russe plötzlich die Tür auf. In jenem<br />

Augenblick purzelten starre und nackte Mannequins durch den Türrahmen auf<br />

den Vorbau, Zelluloidmannequins mit kahl geschorenen Schädeln und weit<br />

geöffneten Glasaugen, leicht mit Reif bedeckt und in rigiden Stellungen, gleich<br />

denen, die in den Schaufenstern darauf warten, angekleidet zu werden.<br />

Mannequins!... Oh, nein, g<strong>ro</strong>ßer Gott, es waren keine Schaufensterpuppen. Es<br />

waren Typhusleichen, die nach Wochen des F<strong>ro</strong>sts bläulich, alabasterfarben<br />

angelaufen waren. Als hätten sie sich mineralisiert. Die Sanitäter begannen, die<br />

starren Kadaver zu den Schlitten zu schleppen, wo sie sie wie Holz abwarfen.<br />

Plötzlich rief einer von uns aus: „Das ist doch Serafim, Leutnant Serafim von<br />

meiner Kompanie!“ Als die Sanitäter sahen, dass wir jemanden erkannt hatten,<br />

ließen sie die Leiche noch eine Weile auf dem Boden vor uns. Sie sah aus wie<br />

eine Elfenbeinstatue, die blauen Augen standen weit offen, irgendwie noch leicht<br />

benebelt. Auf den weißen Lippen jedoch lag ein unmerkliches Lächeln, gleich<br />

jenem auf der Totenmaske der „Unbekannten aus der Seine“. Was mochte er<br />

wohl im letzten Lebensmoment und mit dem ersten Blick in die Welt von „drüben“<br />

gesehen haben, auf dass er noch lächelte? Wie dem auch sei, seine schönen<br />

Züge waren entspannt und es zierte sie eine Ruhe, die nicht mehr von dieser<br />

Welt war.<br />

Diese grauenerregenden Bilder sollten viele meiner Alpträume nähren:<br />

Eine plötzlich aufgehende Tür, aus der eine Lawine von Leichen-Mannequins<br />

aus Zelluloid und Alabaster hervorbricht und alles, alles, was vor ihr liegt,<br />

zudeckt.

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