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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 89<br />

sind, was ist denn so schlimm dabei? Darf der Tote denn nicht auch beweint<br />

werden?“ Die Frage löste Gelächter aus.<br />

„Im Grunde genommen“, nahm der Hochstapler das Gespräch wieder auf,<br />

den das bewirkte Lachen ermunterte, „wenn ihr Kollegen und Freunde wart,<br />

warum haben nicht Sie ein Wort zum Abschied gesagt? Warum haben nicht Sie<br />

seine Sachen an sich genommen? Bitte schön, ich überlasse sie Ihnen. Sie sind<br />

berechtigter als ich, sie zu besitzen. Aber erneut verstehe ich etwas nicht:<br />

Solange er noch am Leben war, habe ich Sie nicht ein einziges Mal mit ihm<br />

sprechen sehen. Neben Ihnen stirbt ein Kollege, ein Freund, und Sie schenken<br />

ihm keine Aufmerksamkeit. Warum wohl?“<br />

„In erster Linie, was die Sachen betrifft“, begann der „Kollege“ auf die<br />

Fragenlawine zu antworten, „in dem Zustand, in dem ich mich befinde, kann ich<br />

kaum noch meine eigenen tragen, geschweige denn auch noch jene eines<br />

anderen. Und was den «Logos» betrifft, den ich hätte halten sollen, ich kann<br />

mich nicht mehr konzentrieren…. Und dann besitze ich auch nicht Ihr Talent, vor<br />

dem ich den Hut ziehe. Und nun zu einer etwas delikateren Frage: Warum ich<br />

kaum mit ihm gesp<strong>ro</strong>chen habe, solange er noch lebte? Weil keiner von uns<br />

beiden das Bedürfnis danach verspürte. Jeder von uns lebte in jener<br />

schlaftrunkenen Ermattung, die uns nach und nach ins Jenseits zieht. Dass er<br />

neben mir gestorben ist und ich dem keine Achtung geschenkt habe? Wer kann<br />

sich denn noch um den Tod eines anderen kümmern, wenn ihn der seine<br />

umschleicht?“ Dieses Ende des Gespräches ließ bei allen einen bitteren<br />

Geschmack zurück. Der Tod ist also nicht bloß etwas, das von außen kommt. Er<br />

ist auch etwas, das in uns drinnen wächst und reift, wie eine schwarze Frucht.<br />

Und erneut überfielen mich die Ängste der ersten Marschstunden durch die<br />

Nacht voller Halluzinationen, mit dem zwingenden Bedürfnis, wie aus einem<br />

brennenden Haus aus mir hinauszuflüchten. Die Gefahr – das hatte der letzte<br />

Redner richtig gezeigt – liegt im Sichverschließen in sich selbst und dem<br />

Hinübergleiten in jene schlaftrunkene Ermattung, an deren anderem Ende der<br />

Tod wartet.<br />

Tatsächlich, keiner der bis dahin Verschiedenen war an irgendeiner<br />

Wunde oder Krankheit, sondern alle waren an der Erschöpfung ihrer physischen<br />

und moralischen Ressourcen gestorben. Die Menschen waren im Hässlichen<br />

und dem uns erdrückenden Dunkel ertrunken. Sie waren drin blockiert und<br />

vielleicht hätte eine einfache Aufrüttelung sie befreit und das intime Ressort ihres<br />

Lebensinteresses wieder zum Funktionieren gebracht. Es war aber keiner da, sie<br />

aufzurütteln. Das P<strong>ro</strong>blem ist, wie weckt man dieses Interesse. Die Antwort hatte<br />

uns der falsche Kollege gegeben, der Hochstapler mit seiner apokryphen<br />

Biografie, der uns immerhin fast eine Stunde lang in den Zauber seiner<br />

Erzählungen gezogen und uns je eine diskrete Träne an die Wimpern gelockt<br />

hatte. War nicht er es gewesen, der uns dazu verholfen hatte, aus der<br />

Grausamkeit der Realität in die kompensatorische Welt der Fiktion zu flüchten?<br />

Nach dem Abendessen brach ich das Schweigen, das die Verdauung der<br />

armseligen Fisch- und B<strong>ro</strong>trationen begleitete, und schlug vor, dass jene von<br />

uns, die sich noch an einen guten Roman, einen schönen Film oder sogar an<br />

Ereignisse aus ihrem Leben erinnern konnten, diese zu erzählen, so wie es<br />

heute Morgen unser Kollege mit seiner kleinen Geschichte getan hatte, die–

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