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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 17<br />

bloß andere wie sie) Zugang haben. Mal davon ausgegangen, dass dieser<br />

Eindruck nicht nur ein rein subjektiver ist, worin bestünde dann dieses Gut? In<br />

der Annahme, dass sie durch die Leiden, die sie erfuhren, Zugang bekommen<br />

haben zu einer Tiefenkenntnis von Welt und Leben, und zwar auf einem Niveau,<br />

das sie unter normalen Umständen nie erreicht hätten. Es ist so, als ob der lange<br />

Weg durch all die Schicksalsschläge der KZ-Welt nichts anderes als eine<br />

Initiations-Route gewesen wäre, an deren Ende auf jene, die diese fehlerlos<br />

zurückgelegt haben, die T<strong>ro</strong>phäe der authentischen «Gnosis» wartet: eine<br />

Erkenntnis von Leben und Mensch bar aller Klischees oder Illusionen, eine<br />

zutiefst realistische und vor allem voller erstaunlicher Offenbarungen.<br />

Der durch das Leid der Haft Initiierte entdeckt mit Verwunderung, dass<br />

seine physischen Möglichkeiten in Grenzsituationen und vermittels einer<br />

konzentrierten Aktion des Geistes (die auch den Namen Gebet trägt) in<br />

verblüffender Weise die Schranken des gewöhnlichen Menschen überschreiten,<br />

so wie sie bis dahin unter normalen Umständen bestätigt wurden, und sich auf<br />

Ebenen erheben, die mitunter einem Wunder nahe kommen. Der durch das Leid<br />

der Haft Initiierte entdeckt damit das Primat des Geistes über die physische Welt<br />

sowie auch jenes der inneren Freiheit über die Fatalität und wird sich dessen<br />

bewusst, dass es keine Sackgasse ohne Ausgang gibt, wenn der Geist kraftvoll<br />

und seine Konzentration intensiv bis zur Inkandeszenz ist. Desgleichen entdeckt<br />

er hierdurch, dass jeder Schicksalsschlag, der ihn nicht zu Boden brachte, ihn<br />

noch stärker gemacht hat.<br />

Der durch das Leid der Haft Initiierte erfährt die Welten umstürzende<br />

Macht der Liebe, der Kameradschaft, der Freundschaft, die mit ihrer Wärme das<br />

Eis des Egoismus, der Feindschaft oder der Gleichgültigkeit schmelzen und aus<br />

einer KZ-Hölle einen Himmelsmund 18 oder doch wenigstens eine erträgliche<br />

Lebenszone macht. Er gelangt aber vor allem dazu, dessen gewahr zu werden,<br />

dass jede Anstrengung, die er aus Liebe und Hingabe für seinen Not leidenden<br />

Nächsten macht, keineswegs an seinen Kräften zehrt, sondern diese in<br />

unglaublicher Weise mehrt, und so stellt er fest, dass er durch solche Taten des<br />

machtvollen Ausbruchs aus seinem egoistischen Selbst eigentlich das<br />

euklidische Universum (in welchem 4 minus 2 immer 2 macht) hinter sich lässt,<br />

um in eine Existenzzone einzutreten, in der eine andere Mathematik (jene der<br />

Liebe) regiert und in der durch Hingabe nicht subtrahiert sondern addiert wird<br />

(wie in der Parabel von der Mehrung der B<strong>ro</strong>te). So gelangt er, sei es auch nur<br />

für ein paar Augenblicke der Gnade (die stets mit den schwersten<br />

Schicksalsschlägen zusammenfallen), schon im Diesseits einen Zipfel vom<br />

Vorhang, hinter dem sich das Himmelreich verbirgt, anzuheben.<br />

Dies ist die hervorragende Lektion, die wir an den beiden g<strong>ro</strong>ßen<br />

Universitäten des KZ-Äons – «Die Gefangenschaft» und «Das Gefängnis» –<br />

gelernt haben. Dies ist der Gewinn, den all jene, die diese Einrichtungen besucht<br />

haben, glauben eingestrichen zu haben – mit dem abstrichlosen Preis ihres<br />

Leids. Es ist die wenn auch bloß halbbewusste Voraussetzung endgültig<br />

18 Im Orig.: „o gur! de rai”. Die ersten beiden Zeilen der bereits erwähnten Volksballade Mioritza lauten<br />

übrigens: „Pe un picior de plai/ Pe o gur! de rai...” („In einer Bergesschlucht/ In einer Himmelsbucht...”,<br />

siehe „Rumänische Volksdichtungen”. Deutsch von Alfred Margul-Sperber, Bukarest, 1954).

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