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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 293<br />

einen lethargischen Schlaf flüchteten, um ein Maximum an Energie zu sparen,<br />

bei denen der P<strong>ro</strong>zess des physischen und psychischen Verfalls am<br />

fortgeschrittensten war. Jene hingegen, die keinerlei Kalkül zum Verbrauch der<br />

eigenen Energie anstellten, die der Versuchung des Bettes nicht nachgaben und<br />

sich g<strong>ro</strong>ßzügig für den Gemeinschaftsdienst anboten, sie gingen aus dieser völlig<br />

neuen Erfahrung viel besser hervor. Selbstverständlich war diese P<strong>ro</strong>be aus<br />

physischer Sicht für uns, die wir von Anfang an das Handikap eines prekären<br />

physiologischen Zustands vorwiesen (waren wir doch vom Hunger geschwächt<br />

und erschöpft von der Arbeit aus dem Winter herausgekommen), eine besonders<br />

harte. Auf den Antlitzen meiner Kampf- und Leidensgenossen konnte ich Tag für<br />

Tag die Veränderungen ihrer Physiognomien verfolgen. Die Wangen fielen ein<br />

und überließen dem Nasenkiel eine unheimliche Dominanz. Die Augenhöhlen<br />

wurden tiefer und tiefer, was die bläulichen Ringe darunter noch mehr betonte,<br />

und die weit hinten liegenden Augen darin wurden zunehmen glasiger, wie bei<br />

einem Toten. Bei einigen von uns stellte ich auch eine Verkrampfung fest, eine<br />

Grimasse, darunter sie den Schmerz aus ihren von den Krallen des Hungers<br />

zerfleischten Eingeweiden zu verbergen versuchten. Unser Atem stank<br />

fürchterlich. Der Grund lag in der Autophagozytose unseres Körpers, wie mir ein<br />

Arzt erläuterte, der mit dabei war… „Die gesunden Zellen verschlingen die<br />

kranken. Die undefäkierten Überreste letzterer riechen so übel. Bis zu einem<br />

bestimmten Punkt“, meinte der Arzt, „regeneriert sich der Organismus sogar<br />

durch den Hunger, denn die kranken Zellen verschwinden.“ „Mag ja stimmen!“,<br />

dachte ich bei mir, aber ich hätte lieber verzichtet auf eine solche Regenerierung.<br />

So also verging Tag um Tag mit Autophagozytose und Regenerierung, bis ich<br />

eines Morgens, am sechsten Tag, als man uns den Tee brachte, feststellte, dass<br />

es wenige waren, die sich noch aus ihren Betten erhoben, um ihre Portion<br />

entgegenzunehmen. Die meisten lagen kraftlos und apathisch auf ihren<br />

Pritschen. Als ich mich umsah, bemerkte ich eine Reihe von eingefallenen<br />

Gesichtern, erloschene Blicke, schweres Atmen, ersticktes Stöhnen. Einige<br />

versuchten, aufzustehen und fielen vor Schwindel und Schwäche zurück auf<br />

ihren Rücken gleich Entenküken. Einer der Oberste befand sich in einem<br />

Zustand der P<strong>ro</strong>stration, atmete schwer, und sein Puls war beunruhigend niedrig.<br />

Wir alarmierten den Tschassowoj, der vor dem Eingang Wache stand.<br />

Bald erschien auch der Chefarzt des Lagers, ein Opachen aus<br />

Zarenzeiten, der uns äußerst verd<strong>ro</strong>ssen vorwarf, wir machten ihm das Leben<br />

sauer. Seine Feststellung löste Gelächter aus, was angesichts unserer<br />

geschwächten Körper fürchterlichen Fratzen auf unsere Antlitze brachte. „Das ist<br />

stark! Wir machen ihnen das Leben sauer. Wir haben sie vor die Schlitten<br />

gespannt. Wir haben mit den Gewehrkolben auf sie eingeschlagen. Nicht sie.<br />

Wie gut es die Folterer denn verstehen, sich als Opfer auszugeben!“ Irritiert<br />

durch das von ihm ausgelöste Gelächter, befahl der Arzt den mitgekommenen<br />

Sanitätern, den Patienten in die Krankenstube zu bringen, dann verschwand er in<br />

Begleitung unseres peinlich-krummen Gelächters. Nach diesem Vorfall ließ sich<br />

über unseren Schlafsaal erneut eine grausige Stille, in welcher bloß zunehmend<br />

schwereres Atmen und immer öfter Gestöhne zu hören war. Völlig ermattet<br />

glitten wir auf den toten Wassern einer Zeit dahin, deren Maß abhanden<br />

gekommen war, und wir wären wohl weiter und weiter weg geglitten, hätte uns

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