04.09.2013 Aufrufe

radu m|rculescu - Memoria.ro

radu m|rculescu - Memoria.ro

radu m|rculescu - Memoria.ro

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 530<br />

p<strong>ro</strong>letarischen Tarnung, unsere Stadtwelt von einst nicht wieder, und sie prüften<br />

unsere bizarre und anach<strong>ro</strong>nistische Kleidung, betrachteten uns wahrscheinlich<br />

mit historischem Interesse, als seien wir einem Museum entstiegen. Allerdings,<br />

dies will ich nicht verschweigen, in den Augen einer alten Frau sah ich auch<br />

einen Hauch Wehmut aufblitzen, was für mich noch unerträglicher war.<br />

Da ich dieses gegenseitige Mustern satt hatte, klebte ich meine Nase ans<br />

Fenster und begann voller Gier die mir so bekannten und lieben Boulevards und<br />

Straßen zu verfolgen, die an uns vorbei zogen. Es waren die Stätten meiner<br />

Kindheit, und ich versuchte, die stattgefundenen und die nicht stattgefundenen<br />

Veränderungen festzustellen.<br />

Seltsam war, dass ich bei bekannten Stätten oder Häusern, an denen wir<br />

vorbei fuhren, obwohl ich sie erkannte, das Gefühl hatte, es seien nicht<br />

dieselben, die echten, sondern deren Doppelgänger, dass ihnen „etwas“ – etwas<br />

Undefinierbares – fehlte, um sie selber sein zu können, so wie ich sie damals,<br />

irgendwann in der Vergangenheit, kennen gelernt und empfunden hatte.<br />

Dieses „Etwas“ jedoch fehlte eigentlich nicht ihnen, sondern mir. Es war<br />

der Anfang einer seelischen Krise, einer „Identitätskrise“. („Die Stätten, die<br />

Dinge, die Menschen, die ich wieder fand, sind nicht mehr die gleichen von<br />

vormals. Etwas schlich sich in ihr Wesen ein, veränderte ihre Identität und ließ<br />

sie nur noch mit ihrem Äußeren zurück.“)<br />

Diese Krise, die damals am Waggonfenster ausgelöst worden war, hielt<br />

für ein gutes Stück Zeit an (Monate, vielleicht Jahre – in einer gemilderten Form),<br />

bis meine moralische Gesundheit siegte, und die Dinge, die „wieder gefundenen“<br />

Menschen in meinen Augen ihre Wirklichkeit wieder gewannen.<br />

Schließlich erreichten wir die Haltestelle Roata Lumii und stiegen aus. Auf<br />

dem von der brennenden Julisonne überfluteten Gehsteig war unsere<br />

Erscheinung für die Passanten noch ausgefallener. Unsere verblichenen und bis<br />

zum Auseinanderfallen abgetragenen Uniformen, aber mit glänzenden<br />

Epauletten, nicht mit kommunistischen Sternen, sondern mit Offizierstressen der<br />

alten Rumänischen Königlichen Armee, unsere Rucksäcke, aus denen<br />

zerrissene Pelzjacken- und Mützenfelle heraushingen (und dies im<br />

Hochsommer), die schweren, hohen und breiten Bisonstiefel, in denen unsere<br />

mageren Beine wie in Oliven steckende Zahnstocher aussahen, all dies verlieh<br />

uns – gegenüber der „konformistisch-genossenschaftlichen“ Kleidung der<br />

Fußgänger – das bizarre und obsolete Aussehen von zufällig aus dem Zeittunnel<br />

gefallenen Personen.<br />

Als wir einander anschauten, brache wir in Lachen aus.<br />

„Mann, Radu, komm, lass uns so schnell wie möglich verschwinden von<br />

hier, bevor man uns ergreift und in ein Museum steckt! Bis zum «Antipa» 201 ist es<br />

ja nicht weit“, witzelte Nae in dem ihm eigenen Stil.<br />

„Nae, du hast Recht, wenn ich uns betrachte, ist es, als sähe ich die zwei<br />

Grenadiere Napoleons, die wie wir nach neun Jahren Gefangenschaft aus<br />

Russland zurückgekehrt sind, und mir ist, als hörte ich R\doi, den Armen, denn<br />

er ist im Pferch geblieben, wie er mit seiner dramatischen Baritonstimme das<br />

Schumannsche Lied singt. Das sind auch wir nun: Zwei Grenadiere, Überbleibsel<br />

201 Das Museum für Naturgeschichte „Grigore Antipa“ aus Bukarest.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!