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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 422<br />

114. Der Krankentransport. Der Fall Hauptmann Bulancea<br />

Tatsächlich, es war ein gutes Zeichen. Aber nicht für alle. Noch im Laufe<br />

desselben Tages wurde ein Transport organisiert. Aber nur für Kranke aller<br />

Nationen. Von uns gehörte auch – zu meiner g<strong>ro</strong>ßen Erleichterung –Hauptmann<br />

Popescu Tudor dazu, dessen Lungenleiden, das er sich in den Kellern des<br />

NKWD zugezogen hatte, sich nun – durch seine unvorsichtige Teilnahme an<br />

unserem Hungerstreik, t<strong>ro</strong>tz der Warnungen und meines Abratens –<br />

verschlimmert hatte.<br />

Eine besondere Genugtuung jedoch – vergleichbar mit jener, die man<br />

infolge des Sieges hat, der einen verzweifelten Kampf krönt – war uns die<br />

Tatsache, dass zur Repatriierungsgruppe auch Hauptmann Bulancea gehörte.<br />

Welches war nun seine Geschichte?<br />

Jeder Gefangene im sowjetischen Pferch stand im dem Moment, wo sich<br />

für ihn die existentielle Frage der Repatriierung stellte, vor einer Vielzahl von<br />

Optionen, die mit der völligen Selbstaufgabe in die Hände des Feindes begannen<br />

(mit der Perspektive des Verrats – am eigenen Volke, an Gott, am eigenen<br />

Selbst, letztendlich) und reichten bis hin zu jener des Widerstands, sei es nun in<br />

der moderaten Form der Passivität, sei es durch den radikalen, aktiven P<strong>ro</strong>test<br />

unserer streikenden Minderheit.<br />

Hauptmann Bulancea hatte einen eigenen, individuellen,<br />

unnachahmlichen Weg mit letalen Risiken gewählt. Da er feststellte, dass die<br />

Sowjets die Schwerkranken unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung<br />

repatriierten (damit ja nicht die Zahl der Toten ansteige), hatte er beschlossen,<br />

sich durch Aushungerung bis zum Letzten zur Dyst<strong>ro</strong>phie zu bringen, welche die<br />

Lagerverwaltung zwingen würde, ihn umgehend nach Hause zu schicken, um<br />

nicht auf sowjetischem Territorium zu sterben. Diese Operation aber musste zum<br />

einen mit aller Entschiedenheit, zum anderen äußerst diskret durchgeführt<br />

werden, um nicht das Misstrauen zu erwecken, es handle sich um einen<br />

versteckten Hungerstreik. Hauptmann B. nahm gleich allen Gefangenen seine<br />

Ration entgegen, allein davon (von der Tagessuppe) schlürfte er bloß einen<br />

Löffel voll. Unter dem Vorwand, er leide an Anorexie, an Essensunlust, warf er<br />

den Rest weg oder gab ihn heimlich den Kameraden neben sich. Seine Aktion<br />

war quälender als ein gewöhnlicher Hungerstreik, bei dem nach einigen Tagen<br />

das Hungergefühl, von anderen Symptomen überlagert, fast verschwindet. Allein,<br />

im Falle eines perfekt gesunden Menschen löst auch schon ein einziger Löffel<br />

Essen die Sekretion aller Magensäfte aus, welche dann, da sie ungenutzt<br />

bleiben, Magengeschwüre p<strong>ro</strong>vozieren und zerreißende Schmerzen mit sich<br />

bringen, und dies geschah nicht eine Woche, sondern Monate lang.<br />

Hpt. B. aber ertrug stoisch diese Selbsttortur und wohnte unerschütterlich<br />

dem eigenen gewollten Verfall bei, mit dem einzigen Ziel vor Augen: die<br />

Repatriierung. Auch heute noch erinnere ich mich an ihn, wie er oben auf seiner<br />

Pritsche zur Essenszeit seinen einzigen Löffel Suppe hinunterschlürfte. Er war<br />

ausgedörrt und bläulich wie eine Mumie. Seine fleischlosen Lippen legten das

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