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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 119<br />

in aller Heimlichkeit. Unser Zigeuner aber, sich dumm stellend, sprach nun offen<br />

aus, was er gehört hatte, und gerade darin lag der Witz.)<br />

„Meine Herren“, begann Codler mit schneidender Stimme nach mehr als<br />

einer Minute, nachdem das letzte Geräusch verstummt war, „glauben Sie, dass<br />

diese Späße auf Kosten unserer tapferen Sowjetarmee passend sind, wo diese<br />

doch vom Boden unseres Vaterlandes die nazistischen Besatzer vertreibt?“ Oder<br />

„glaubt Ihr, dass die Bed<strong>ro</strong>hungen, die über unserem rumänischen Lande<br />

schweben minimalisiert werden können?... Oder die Verantwortlichkeiten, die auf<br />

unseren Schultern liegen?... Und wehe denen, die sich nicht auf der Höhe<br />

derselben zeigen werden! Die Geschichte wird sie bestrafen!“ (Die D<strong>ro</strong>hung war<br />

offensichtlich. Nur dass er uns nicht sagte, welches denn das Instrument war, mit<br />

dessen Hilfe die Geschichte uns denn bestrafen würde. Etwa mit Hilfe des<br />

NKVD?) Indem er aber von der Verantwortung sprach, die auf unseren Schultern<br />

lag, rundete sich Codlers Rücken gerade so, als lastete auf ihm das gesamte<br />

Schicksal unseres Volkes von Kaiser Trajan und König Decebalus 62 an bis heute.<br />

„Hat jemand zu dem, was hier diskutiert worden ist, eine Frage“, fuhr<br />

Codler unentmutigt fort (im Saal herrschte absolutes Schweigen), „oder etwa<br />

einen Vorschlag zu machen?“ (Das gleiche Schweigen.) Um uns aus unserem<br />

Schweigen zu reißen, entschied sich der Kommissar dazu, uns individuell<br />

anzugreifen.<br />

„Sie, Herr Leutnant“, wandte er sich an einen Offizier in der ersten<br />

Sitzreihe, der, überrascht, wie er war, sich schwerfällig und verwirrt erhob. Ich<br />

erkannte ihn. Es war ein Lehrer aus der Neam]er 63 Gegend – an seinen Namen<br />

erinnere ich mich nicht mehr, ein gedrungener, kleinwüchsiger, aber gut gebauter<br />

Mann, gescheit und wortgewandt. Wehe dem armen Codler, da ist er in ein<br />

Minenfeld geraten!<br />

„Ja, Sie“, wiederholte der Kommissar, „was für einen Vorschlag hätten Sie<br />

denn zu machen?“. Schweigen. Der Gefragte schien tief nachzudenken, und<br />

nach einer Pause sagte er langsam:<br />

„Man soll uns den Fisch auf die Hand geben!“<br />

„Was? Welchen Fisch denn?“, fragte der Kommissar verdutzt.<br />

(Verhaltenes Lachen im Saal, Verblüffung im Präsidium am <strong>ro</strong>ten Tisch.)<br />

„Ja, unsere Fischration, davon spreche ich. Die soll nicht mehr in den<br />

Kessel gegeben werden, von wo wir nur die Gräten kriegen, andere aber die<br />

Fleischstückchen!“ In den Saal kam Bewegung. Erst hörte man unverständliches<br />

Gemurmel, dann war aber zunehmend klarer die Losung des Tages, die<br />

Hungerlosung zu hören: „Den Fisch auf die Hand! Den Fisch auf die Hand!... Den<br />

Fisch auf die Hand!“<br />

„Aufhören, bitte, aufhören!“, fuhr Codler ersch<strong>ro</strong>cken dazwischen, wohl<br />

fühlend, dass die Situation außer Kont<strong>ro</strong>lle geriet. „Dies ist eine Sache der<br />

Verwaltung. Sie wird schon auch geregelt werden. Ich meinte aber ganz andere<br />

Vorschläge, angesichts der Lage, in der unser Land… unser Volk…“. Da hielt er<br />

inne, um Luft zu holen.<br />

62 Decebalus (rum. Decebal) war der letzte König von Dakien im heutigen Rumänien und herrschte von 87<br />

bis zu seinem Tod 106, als die Dakier den zweiten Krieg gegen Rom verloren und Dakien römische<br />

P<strong>ro</strong>vinz wurde.<br />

63 Neam" („Deutscher“) ist ein Kreis in der rumänischen Moldau im Osten Rumäniens.

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