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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 154<br />

40. … DAS WUNDER<br />

Es war am strahlend-sonnigen Morgen des 5. Mai. (Ich erinnere mich an<br />

dieses Datum, weil Iolly mir speziell deswegen Manzonis Gedicht Cinque Maggio<br />

(Fünfter Mai) rezitiert hat, in dem es um den Tod Napoleons geht und welches<br />

mit dem rhetorischen „Egli fu“ – „Er war“ beginnt.)<br />

Nach einem ungewöhnlich langen Warten brachten uns die Männer vom<br />

Dienst endlich das Morgenessen. Wir trauten unseren Augen nicht! Anstatt der<br />

ohnmächtigen Kartoffelschalensuppe räkelten sich auf dem Tablett Omelettes,<br />

die einen wahnsinnig machenden Duft verströmten. Dazu gab es ernsthafte<br />

Portionen Butter und B<strong>ro</strong>mbeermus. Eine in gut gesüßter Milch gekochte<br />

Hirsekascha sowie ein sehr a<strong>ro</strong>matischer Tee rundeten dieses fabelhafte<br />

Festfrühstück ab. Bevor wir uns an den Schmaus machten, sahen wir einander<br />

verwundert an. Wir wussten nicht, was wir denken sollten. War all das Essen vor<br />

uns denn wirklich, oder waren wir Opfer einer kollektiven Illusion oder einer<br />

Zauberei? „Madonna!“ seufzte mit Tränen in den Augen mein feinsinnigmystischer<br />

Freund Cesare Grazzia. „Sie hat dieses Wunder vollbracht, heute<br />

haben wir einen ihrer Tage.“ (Für meinen treuherzigen Kumpel war diese Welt<br />

der Ort einer kontinuierlichen Theophanie. Alle Ereignisse, und waren sie noch<br />

so gering, verdankten sich dem Eingreifen der höheren Mächte, vor allem jener<br />

der Madonna.)<br />

Schließlich entschlossen wir uns dazu, den Zauber zu zerreißen und uns<br />

von der Wahrhaftigkeit dieser Leckerbissen zu überzeugen, indem wir sie in<br />

g<strong>ro</strong>ßer Eile aufaßen, aus Angst davor, sie könnten verschwinden. Da tauchte im<br />

Schlafsaal ein Nachtkoch auf, um sich schlafen zu legen. Von ihm erfuhren wir,<br />

dass die ganze Nacht über aus Oranki (der Verpackung nach) amerikanische<br />

Lebensmittel rübergeschleppt worden waren; dass der Küchenchef erzählt habe,<br />

Stalin habe gesagt, es seien viel zu viele Gefangene umgekommen und von nun<br />

an lieber zehn Russen denn auch nur ein einziger Gefangener sterben sollten.<br />

An diesem Satz aus Stalins Mund muss wohl, so unwahrscheinlich er klingt,<br />

auch ein Körnchen Wahrheit dran gewesen sein, denn man hat nicht nur in<br />

Oranki, sondern auch in anderen Lagern – in Susdal, Vladimir, Libidiansk,<br />

Riasan, Viasinki – davon gesp<strong>ro</strong>chen, wie von denen bestätigt wurde, die da<br />

gewesen sind.) Tatsächlich wurden die Sowjets, nachdem sie eingangs<br />

behauptet hatten, sie hätten Millionen Soldaten gefangen genommen, nun vom<br />

Internationalen Roten Kreuz, dem sie beigetreten waren, unter die Lupe<br />

genommen. Das IRK wollte selbst auch Evidenz über die Gefangenen halten und<br />

stellte deswegen allerlei unbequeme Fragen nach Namen, Gesundheitszustand<br />

derselben usw. Angesichts der schrecklichen Sterberate, deretwegen die<br />

erklärten Millionen dezimiert worden waren, fielen die Sowjets, labil, wie sie nun<br />

mal waren, rapide aus einem Extrem ins andere und zeitigten für ne Weile<br />

rührende Fürsorge für das Leben eines jeden Gefangenen. (Wie lange dies<br />

anhalten sollte, wird man bald feststellen können.) Was der Koch erzählte, war<br />

elektrisierend für uns, umso mehr, als er, um seinem Bericht mehr

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