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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 343<br />

Bald wurde es dunkel. Wir hatten Wintersonnenwende. Viele von uns<br />

wurden erst jetzt dessen gewahr, dass Weihnachten war. „Vergib uns, Herr, dass<br />

wir über den Kampf mit dem Drachen auf Deine Heilige Geburt vergessen<br />

haben!“ Die Finsternis hatte vom gesamten prähistorischen Bau Besitz ergriffen<br />

– ausgenommen die Fensteraugen, durch welche das Schneeweiß von draußen<br />

bläulich in unser Dunkel strahlte. Da zündeten wir zu Ehren unseres<br />

angesehenen Gastes, der mit Fackeln empfangen werden sollte, aber nicht mehr<br />

auftauchte, die Fidibusse, alle Fidibusse an. In angespannter und schweigender<br />

Wartehaltung waren alle Blicke auf die Tür gerichtet.<br />

Endlich fand es dann doch noch statt, das Wunder. Die Tür ging weit auf<br />

und im Türrahmen erschienen der Reihe nach erst Ziganow und Kocharkin, als<br />

Wegbereiter, und nach ihnen die ambivalente Figur, die zur Hälfte aus unseren<br />

Erwartungen und Mythen bestand, zur anderen aus Realität, und das war der<br />

Stellvertreter. Genau genommen steckte er in der Uniform eines NKVD-Obersts,<br />

ein kräftiger Mann mit rundlichem Gesicht, dessen Züge man im Halbdunkel des<br />

Hüttenlichts nicht richtig erkennen konnte.<br />

Ihm folgten der Offizier vom Dienst, also der Major, und von Schubert, der<br />

die Tür hinter sich zuzog. Alle vier blieben neben der Tür stehen, stellten sich<br />

dort gleich Schauspielern auf der Bühne in einer Reihe vor uns auf, ohne die<br />

vier-fünf Stufen zu uns herunter zu steigen.<br />

Mit den brennenden Fidibussen in den Händen machten wir auch ein paar<br />

Schritte auf sie zu. Dann blieben wir stehen. Die beiden Lager blickten sich lange<br />

an und erforschten einander schweigend.<br />

Unser Anblick und die gesamte Umgebung müssen den Oberst wohl<br />

erschüttert haben, denn er war erstarrt stehen geblieben. Allerdings, im Dunste<br />

unseres Atems und im stickigen Rauch der Fackeln enthüllte das Spiel der<br />

Flammen auf unseren von Hunger und F<strong>ro</strong>st verwüsteten Gesichtern und im<br />

verzweifelten Glitzern unserer glasigen, an Tote erinnernden Augen den Grad<br />

des Wahnsinns, bis zu dem die Folterer im Teufelsloch ihr wissenschaftlichsatanisches<br />

Experiment unserer langsamen und diskreten Massentötung<br />

getrieben hatten.<br />

Zweifellos war dieser Mann, der in seinem Handwerk vieles gesehen<br />

hatte, t<strong>ro</strong>tzdem bet<strong>ro</strong>ffen vom geballten Elend und Leid, dass aus Dutzenden von<br />

verwilderten Gesichtern mit struppigen Bärten und Mähnen auf ihn prallte und<br />

ihm aus Dutzenden von schauderlichen Augen entgegenstarrte. Ziganow ergriff<br />

die Initiative und riss seinen Oberen aus dieser Faszination des Schreckens. Mit<br />

falschem Lächeln und perfiden Freundlichkeiten sagte er uns, dass der Oberst<br />

bereit sei, uns Gehör zu schenken, sollte jemand von uns etwas zu melden<br />

haben.<br />

Die Übersetzung besorgte umgehend Vasile Cotea, der seinem von Natur<br />

aus beeindruckenden Äußeren (feurige schwarze Augen, buschige Augenbrauen<br />

wie ein Haiducke, dunkelhäutiges Antlitz) eine kräftige Bassstimme hinzufügte,<br />

mit der er in seiner Übersetzung all das entschieden betonte, was hervorzuheben<br />

war. Soweit ich mich erinnere, ergriffen damals das Wort, in dieser Reihenfolge<br />

oder durcheinander, Hauptmann Alexandru B\lan, Victor Clonaru, Nae Cojocaru,<br />

Stelic\ Petrescu, Gabi Constantinescu und andere, darunter auch ich. Was jeder<br />

genau gesagt hat, weiß ich nicht mehr. Nicht einmal, was ich gesagt habe. Ich

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