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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 8<br />

1. PILOTKAPITEL<br />

3. Januar 1991<br />

Wie in so vielen Nächten, in denen mein Schlaf von Signalen durchzogen<br />

wird, die aus einer fernen, einst zwischen Stacheldraht und Gittern verbrachten<br />

Vergangenheit aufsteigen, erhielt ich auch heute Nacht eine weitere Botschaft.<br />

Es erschien mir ein riesiger Mann in einem weich wattierten Mantel, der bis zur<br />

Erde reichte, er trug eine russische Fellmütze mit schwarzen, seitwärts<br />

hängenden Klappen gleich den müden Schwingen eines Raben. In der einen<br />

Hand hielt er einen rauchenden Karabiner, in der anderen eine Leine, an der er<br />

einen kleinwüchsigen Hund brachte, einen Dackel mit rötlichen Zotteln und<br />

krummen Beinen, um aus dem Schnee – der in meine Stube eingedrungen war –<br />

einen dünnen Blutfaden aufzulecken. Gezogen vom kurzbeinigen Hundeknirps,<br />

der mit der Zunge den <strong>ro</strong>ten Streifen verfolgte, durchquerte er den inzwischen<br />

länger gewordenen und mit übereinander gestellten Betten gefüllten Raum –<br />

dann verschwand er.<br />

Ich erkannte die beiden, Mann und Hund, sofort.<br />

Es war der Schlussmann des Bewachungskorps unserer Kolonne; wir<br />

waren nämlich in der Schlacht am Don gerade in Gefangenschaft geraten und<br />

wurden auf einem wahnsinnigen Zwangsmarsch, einem Marathon des weißen<br />

Todes, durch den immensen russischen Winter getrieben. Diejenigen, die, vor<br />

Kälte erf<strong>ro</strong>ren, vom Hunger hingerafft oder vor Kraftauszehrung nicht mehr<br />

Schritt halten konnten mit der Kolonne, nahm er gütig beiseite, setzte sie an den<br />

Wegrand und salbte ihre Stirn mit je einem Gewehrschuss, wartete dann neben<br />

jedem einzelnen, bis der Zwerghund das Ritual der Waschung des Toten<br />

vollendete, indem er das Blut aus dem Gesicht desjenigen leckte, der von seiner<br />

Last zu existieren befreit worden war. Dann gingen beiden zum Nächsten über.<br />

Er und der Hund hatten von da an für mich den Status archetypischer<br />

Personen errungen, welche die Tore zum Reich der Schatten öffnen. Mit diesen<br />

Attributen ausgestattet, hatten sie die Welt des Wirklichen durchquert und sich<br />

mir im Traum eingenistet. So kam es, dass sie im Laufe der Zeit in vielen<br />

Nächten erschienen und mir jedes Mal irgendeine Botschaft von drüben<br />

überbrachten. Was jedoch wollen sie mir bloß jetzt noch verkünden aus der Welt<br />

jener vierzehn Jahre der Klausur, die in mir begraben liegt? Denn diese Welt ist<br />

tatsächlich nicht untergegangen. Sie hat sich in den Falten des<br />

Unterbewusstseins versteckt, irgendwo unterhalb des Geheimnishorizonts, wie<br />

Blaga 9 sagen würde, und von da aus kontaktiert sie mich im Traum durch<br />

Zeichen, Warnungen, sei es auch nur anspielende, oder gar Vorahnungen. Und<br />

so kommt es, dass mir im Traum, Nacht für Nacht, wenn nicht klare Szenen aus<br />

der Gefangenschaft oder dem Gefängnis – dies passiert seltener – auftauchen,<br />

dann wenigstens eine Einzelheit, ein Detail, ein Seelenzwangszustand, ein<br />

9 Lucian Blaga (1895-1961) – Dichter, Dramatiker und Philosoph – gehört zu den modernen Klassikern der<br />

rumänischen Literatur.

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