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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 421<br />

113. Ein Bote der Taiga<br />

Ich erwähnte bereits, dass die zum Lager umgewandelte Portion Wald<br />

vom Rest der Taiga durch eine breite abgeholzte, einer Lichtung ähnlichen Zone<br />

getrennt wurde. Im Morgengrauen eines nebligen Oktobertages gelangte ein<br />

Elch an den Rand dieser Lichtung, und da er das Lager vor sich für einen<br />

gewöhnlichen Wald hielt, galoppierte er diesem entgegen. Er stürzte wie ein<br />

Bolide über den ersten und den zweiten Stacheldrahtzaun, drang gar ein, zwei<br />

Meter ins Lager ein, wo er dann vom Stacheldraht, der sich ihm um die<br />

Hinterbeine gewickelt hatte, blockiert wurde. Er versuchte verzweifelt, sich<br />

freizukämpfen, aus der Falle zu entkommen. Ersch<strong>ro</strong>cken von dieser unerhörten<br />

Erscheinung, die seinen Wachturm erschüttert hatte, gab der betreffende<br />

Wachtposten einen Alarmschuss in die Luft ab. Und sofort eilten im Laufschritt<br />

die Gardesoldaten, der Offizier vom Dienst und ein NKWD-Hauptmann herbei.<br />

Selbstverständlich versammelten auch wir, die Gefangenen aus den<br />

umliegenden Baracken, die wir gerade zum Waschen gehen sollten, uns am Ort<br />

des Geschehens. Der Elch war ein superbes Tier, hoch wie ein g<strong>ro</strong>ßrassiges<br />

Pferd. All seine Versuche, sich zu befreien, hatten ihn ermüdet. Seine Fessel war<br />

eine einzige Wunde, mit all den Stacheln des Drahtes drin. Er ließ sein breites<br />

Geweih auf den Widerrist, streckte seine Schnauze nach oben und röhrte<br />

herzzerreißend, als wollte er die verborgenen Mächte der Taiga zu Hilfe rufen.<br />

Dann begann er erneut, sich verzweifelt aus der Schlinge freizukämpfen. Aber je<br />

mehr er sich abquälte, desto tiefer drangen die Eisenstacheln ihm ins Fleisch. Da<br />

löste sich aus unseren Reihen ein Koreaner. Er blickte dem Elch in die Augen,<br />

sprach ihm sanft zu und bedeutete ihm mit beiden Händen, sich zu beruhigen.<br />

Nach ein paar weiteren vergeblichen und schmerzvollen Befreiungsversuchen<br />

schien das Tier den Appell des Menschen zu begreifen und hielt unvermittelt<br />

inne. Der Koreaner bat den NKWD-Mann aus den Augen um Erlaubnis, sich dem<br />

Elch zu nähern, und da ihm diese desgleichen aus den Augen erteilt wurde, trat<br />

er mit sanften, beruhigenden Worten zum Elch, lockerte die Schlinge, die sich<br />

ihm um die Fessel gelegt hatte, und das Tier, als wäre es dressiert gewesen, zog<br />

sachte seinen Fuß aus der Schlinge, dann machte es linksum kehrt und suchte<br />

in ausholendem Galopp das Weite. Unter unseren frenetischen Ovationen<br />

verschmolz der Elch mit dem rauchfarbenen Waldrand der Taiga.<br />

„Siehst du“, kommentierte Mihai Popescu, der Arzt, „man kann auch aus<br />

einem Lager wie dieses da entkommen! Das ist ein gutes Zeichen. Nicht wahr?“

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