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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 133<br />

Typhus heimgesuchten Lagern berichtet, aber nicht alle hatten das gleiche<br />

glückliche Ende. Alles hing von der Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit des<br />

Tschassowojs ab, der die Leichen zum Kotlowan karrte. Einige erschossen die<br />

„Auferstandenen“, um sich zusätzlichen Papierkram vom Hals zu halten, waren<br />

diese doch eh schon als „tot“ erklärt und aus den Kont<strong>ro</strong>llen gestrichen worden.<br />

Im Lazarett herrschte eine höllische Situation, wie uns später die<br />

Überlebenden erzählen sollten. Alle Betten waren besetzt, ja man legte sogar je<br />

zwei Kranke in ein Bett. Dazu hatte man auch Doppelstockbetten aufgebaut –<br />

was für die unten Liegenden grässliche Situationen schuf, da die von oben nicht<br />

die Kraft hatten, herunter zu steigen, um ihre Notdurft zu verrichten. Und auch so<br />

konnte man der Internierungswelle nicht gerecht werden (sie war größer als der<br />

St<strong>ro</strong>m Richtung Leichenhalle und von dort Richtung Kotlowan). Die Ärzte, die<br />

Sanitäter, die Schwestern (die Sistres) wurden dieser Flut von Kranken, die im<br />

schrecklichen Fieber der Seuche sich hin- und herwälzten, schrieen, delirierten,<br />

sich gegen den Tod aufbäumten und schließlich in einem letzten Krampf<br />

erstarrten, nicht mehr gerecht. Wer hätte da noch Zeit gehabt, sich um die<br />

persönliche Hygiene der Patienten zu kümmern? Deshalb schwebte über allem<br />

ein Gestank, den weder Formol, noch Kreolin überdecken konnte. Das Höchste<br />

an Fürsorge, auf die zu hoffen war, bestand in einem Lappen mit kaltem Wasser<br />

auf die heiße Stirn des Sterbenden.<br />

Hier nun, was mir Liiceanu erzählte, ein junger aktiver<br />

Artillerieunterleutnant, ein melancholischer, verträumter Mensch, der sichtlich<br />

von seinem Höllenbesuch im Typhuslazarett geprägt worden war: „Ich war ein<br />

einziges Feuer, und alles was ich sah, die Betten, die Kranken, die Sanitäter,<br />

stand in Flammen. Ich wollte sterben, den Qualen dieses Feuers entkommen, als<br />

sich mir plötzlich ein weiß gewandeter Engel mit blonden Locken und blauen<br />

Augen näherte. Er legte mir die Hand auf die Stirn, und diese kühlte sofort ab. Er<br />

fuhr mit seinen kühlen Fingern über meine Wangen und streichelte meinen Hals.<br />

Ein tiefer Frieden erfasste mich und ich sank ins Dunkel. Ich weiß nicht, wie<br />

lange ich da weilte, aber als ich erwachte, war die Krise vorbei und ich selber<br />

seelenruhig. Ich dankte Gott, dass er mich erlöst hatte und führte meine Hand<br />

instinktiv an den Hals, den mir die Finger des Engels gestreichelt hatten, zum<br />

Goldmedaillon mit der kleinen Ikone mit der Muttergottes und dem Jesuskindlein.<br />

Das Medaillon war weg. Ich war perplex. Ich wusste nicht, was ich noch denken<br />

sollte. Hatte mir der Engel das Medaillon geklaut? Aus dieser meiner<br />

Fassungslosigkeit erlöste mich jedoch kurz darauf Marussia, die blitzschöne<br />

Chefschwester im makellosen weißen Kittel, mit blauen Augen und blonden<br />

Locken. An ihrem zarten Hals hing mein Goldmedaillon. Ich erstarrte, als sie<br />

mich anblickte. „Was, du lebst? Bravo, Liiceanu, ot molodetz! (Toller Junge!)“.<br />

Und verschwand geschwind, wie der Engel in meiner Halluzination. Als sie mit<br />

ich weiß nicht welchem Medikament wieder zu mir kam, hatte sie das Medaillon<br />

nicht mehr am Hals.<br />

Bis ich aus dem Spital entlassen wurde, musste ich im<br />

Typhuskrankensalon, in diesem „Höllenschlund“, noch ein paar Tage verbringen.<br />

Nicht vergessen werden darf der pestilenzialische Gestank, der alles durchsetzt<br />

hatte – inklusive unsere Haut, auch nicht die Röchelwelle der Sterbenden, die<br />

wie der Atem des Todes auf- und nieder stieg. Was ich jedoch nicht verstehen

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