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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 384<br />

(im Kaukasus) suchten. Sie fanden Gefallen aneinander und während sie auf<br />

den Zug warteten, ließen sie sich beim Standesamt neben dem Bahnhof trauen.<br />

„Und bis ihr Zug kommt, haben sie auch Zeit, sich wieder scheiden zu<br />

lassen“, ergänzte ein alter Spaßvogel die <strong>ro</strong>mantische Geschichte. Tatsächlich<br />

fand auf der Zugwechsel auf den sowjetischen Bahnhöfen nicht innerhalb von ein<br />

paar Stunden wie bei uns statt, sondern innerhalb von einigen Tagen oder gar<br />

Wochen, war doch das Basisprinzip jenes, dass jeder Zug, egal woher er kam<br />

und wohin er ging, erst mal über Moskau fahren musste. Dies, damit ja nichts der<br />

Kont<strong>ro</strong>lle der Zentralmacht entkommen konnte. Vergleichsweise hatten wir,<br />

zugegeben, sogar Glück, dass wir in Kasan bloß zwei Tage mit Warten verloren.<br />

Der Personenzug, in den wir schließlich einstiegen, hatte Abteile und war nicht<br />

voll. Wir fanden ein leeres Abteil und dank Gabi gelang es uns, den Deutschen<br />

hierher zu lotsen. Nun sollte die Verführungskraft des Wodkavorrates, für den<br />

Gabi seine Kleider geopfert hatte, getestet werden.<br />

Der Zug fuhr los, und wir gerieten erneut in die Reiseeuphorie der<br />

Heimkehr. Zu diesem Zustand der Entzückung trug auch die Natur um die volle<br />

Sommersonnenwende bei, mit dem stets blauen Himmel und der reichen<br />

Vegetation, deren warmes Grün g<strong>ro</strong>ßzügig und unentwegt auf unsere Gesichter<br />

und die Abteilwände abfärbte. So durchquerten wir das Gebiet von Kasan bis<br />

Moskau, durch dessen Bahnhof wir nun schon zum dritten Mal fuhren. „Bahnhof“<br />

ist unpassend für diesen immensen Raum, der sich über zig Kilometer rings um<br />

die Hauptstadt erstreckt und aus einen Spinnennetz von Schienen, Weichen,<br />

Bahnsteigen, Rangiergleisen, Kantons besteht, wo ein Zug, der einmal da<br />

hineingerät, ständig von einem Gleis aufs andere gesteuert, mal vor- und mal<br />

rückwärts geschoben wird, anhält und wieder losfährt, und woher er, ist es ein<br />

Güterzug oder vor allem ein Viehwaggon mit Gefangenen oder mit<br />

gemeinrechtlichen Häftlingen, nicht eher als nach einer Woche (mindestens)<br />

wieder freikommt.<br />

Persönlich war ich fünfmal durch den so genannten Moskauer Bahnhof<br />

gekommen; viermal im Viehwaggon, als ich nichts davon sehen konnte, was man<br />

eine Stadt nennt, und nun mit dem Personenzug, der endlich auf einem der<br />

Reisebahnhöfe hielt. Diesmal kamen wir glimpflich davon, mit bloß einem Tag<br />

Manövern, und dazu konnten wir auch einiges sehen. Ich erinnere mich etwa an<br />

ein Randviertel, durch das wir fuhren, das aus wunderbaren, in verschiedenen<br />

Farben gestrichenen Isben (Holzhäusern) bestand, welche das traditionelle und<br />

authentische russische Air besaßen. Desgleichen sah ich an einer der<br />

Bahnbarrieren Barrikaden aus verbogenen Schienen und davor erstarrte<br />

deutsche Panzer. Bis hierher wird wohl ihre Offensive im denkwürdigen Winter<br />

von 1941 gelangt sein, als General Winter wieder mal das letzte Wort hatte und<br />

die Temperaturen bis unter minus 40 Grad drückte, so dass das Öl in den Tanks<br />

gef<strong>ro</strong>r und die Panzer zum Stillstand brachte.<br />

Was den Reisebahnhof betrifft, da war nichts anders als in Kasan. Die<br />

gleiche armselige, verd<strong>ro</strong>ssene und schlecht gekleidete Menge. Und der Dekor –<br />

die gleiche graue Dreckschicht des sowjetischen Elends überzog die<br />

prestigevollen Vestigien der Vergangenheit.<br />

Nachdem unsere Garnitur aus jenem Sargassomeer genannt Moskauer<br />

Bahnhof entkam, beschleunigte der Zug und durchquerte fast schon fröhlich die

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