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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 377<br />

geheim und im Schutz der riesigen Taiga die g<strong>ro</strong>ße Armee ausgebildet wurde,<br />

die uns im Herbst 1942 am Don den Todesstoß gab. Aus den Dörfern von<br />

jenseits der Wolga war dafür die gesamte Lokalbevölkerung ohne jede Rücksicht<br />

ausgehoben und umgesiedelt worden. Hier hatten die Sowjets ihre letzten<br />

menschlichen Reserven aufgebracht, wie aus dem Teenageralter der Mehrheit<br />

der hier ausgebildeten Rekruten (16-18 Jahre) zu ersehen war.<br />

Als wir unsere Nachforschungen beendet hatten und auf die Straße<br />

zurücktraten, war die Sonne aufgegangen. Es war vielleicht zwei oder halb drei<br />

Uhr. Es tauchten auch andere Militärforscher wie wir auf, mit den gleichen<br />

Schlussfolgerungen. Jetzt mussten wir uns sputen, ja richtig forcieren, um das<br />

G<strong>ro</strong>s einzuholen. Als wir in Selenodol ankamen, war es fünf. Es war ein<br />

prächtiger Morgen. Die Sonne schien aus einem völlig wolkenlosen Blau, und<br />

wolkenlos war auch unser Herz. Wir waren frei und glücklich. Wir waren in dieser<br />

Johannisnacht der Elfen mindestens 18 Kilometer gegangen und spürten<br />

keinerlei Müdigkeit. Die höheren Offiziere sowie die Kranken, die noch in der<br />

Nacht mit dem Lastwagen hierher gebracht worden waren, warteten auf der<br />

Lichtung vor dem Bahnhof in der Sonne ausgestreckt auf uns. Mit ihnen war<br />

auch ein weiterer Wegbegleiter gekommen, ein junger Jude in Zivilkleidung,<br />

zurückhaltend und verschwiegen, der eine dicke Mappe unterm Arm trug.<br />

„Weißt du, was die Mappe des Kerls da enthält?“, fragte mich Clonaru.<br />

Und weil ich keine Anzeichen machte, dies zu erraten, fuhr er fort. „Unsere<br />

Akten, die uns überallhin begleiten werden. Sie sind unsere Schatten. Wo wir<br />

sein werden, dort werden sie auch sein.“<br />

Seither galt der junge NKWD-Mann, der sich uns gegenüber in ein<br />

sichtlich feindliches Schweigen hüllte, als der Mann mit unseren Schatten.<br />

Da kam auch der Personenzug. Der diesmal mit nichts Besonderem<br />

aufwartete, weder mit Vieh-, noch mit Sing-Sing-Waggons. Als er unser Staunen<br />

sah, forderte der Wegführer uns auf, einzusteigen und uns dorthin zu setzen, wo<br />

wir gerade Platz fanden, und mahnte uns, vor allem nicht zu vergessen, in Kasan<br />

auszusteigen, das übrigens auch die Endstation dieser aus Sibirien kommenden<br />

Zuggarnitur war.<br />

Die Aussicht, zusammen mit der Zivilbevölkerung zu reisen, war für uns<br />

faszinierend, waren wir doch so lange Zeit von der Welt abgeschnitten gewesen.<br />

Es waren Gemeinschaftswagen, ohne Abteile, mit Sitzbänken rechts und links<br />

vom Gang. Der Wagen, in den ich einstieg, war fast voll. Der Anblick dieser<br />

buntscheckigen, schlecht gekleideten, übel riechenden und lauten, aber freien<br />

Menschen war t<strong>ro</strong>tzdem etwas G<strong>ro</strong>ßartiges. Uns inmitten dieser Menge<br />

wiederzufinden empfanden wir wie eine wunderliche Versetzung aus der<br />

abwegigen Zone einer Existenz hinter Stacheldraht zurück auf den ontischen<br />

Boden, von dem wir weggerrissen worden waren, jener des gewöhnlichen und<br />

freien Lebens. Mit gierigen Augen erforschten wir alle diese Antlitze gleich<br />

Zugangstoren zu eben so vielen Schicksalen und Existenzen.<br />

Auf der Bank, auf der ich letztlich einen Platz fand, saß ein Mann ohne ein<br />

Bein – dem Orden auf seiner Brust nach ein Kriegsinvalide. Mit meinen ungefähr<br />

200 russischen Vokabeln, die ich im Gedächtnis gespeichert hatte, versuchte ich<br />

ihn zu fragen, an welcher F<strong>ro</strong>nt er gekämpft und in welcher Schlacht er denn sein<br />

Bein verloren hatte. Gekämpft hatte er am Don (wie ich auch) und in Berlin, wo

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