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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 48<br />

7. DAS NULL-MOMENT<br />

Die Zeit verstrich schwer, und es war noch lange, bis auch wir auf den<br />

Kamm gelangen sollten, so dass ich, als wir uns nach und nach jenem Ort<br />

näherten, an dem wir das wertvollste Lebensgut abzugeben hatten, unsere<br />

Freiheit, Muße hatte, mit jedem Schritt die Dimension der «Tiefe» auszuloten, in<br />

die ich stürzen sollte, und sogar dazu, wie in einer umgekehrten Abzählung<br />

abzuschätzen, wie viele Minuten, wie viele Sekunden mir noch blieben bis zum<br />

Moment «0», in dem sich in mir ein Abgrund auftun sollte, um mein Leben in<br />

zwei Teile zu spalten. Und dann war es letztendlich soweit, das fatale<br />

Nullmoment trat ein, als ich, in der Viererkolonne, mit Ivan, Cre]u und Radu<br />

Popescu in einer Reihe, auf die Höhe der ersten beiden grauen, sowjetischen<br />

Uniformen, mit ihren Maschinenpistolen in der Hand, gelangte und die<br />

existentielle Schwelle überschritt. Die Wirkung war bestürzend. Es war, als sei<br />

ich unvermittelt aus einem Farbfilm in einen Schwarzweißfilm übergetreten. Alles<br />

von dieser Schwelle an trug eine andere seelische Prägung. Es war wie in einem<br />

der Kindheitsmärchen, in dem der Held in einen Brunnen hinabsteigt und am<br />

Grunde desselben findet er sich in einer anderen, unterirdischen Welt wieder, die<br />

zwar einen Himmel, eine Sonne, eine Landschaft hat, die identisch mit denen der<br />

Oberwelt, aber anders sind. Dieses Gefühl des Andersseins, ja sogar jenes, dass<br />

diese Welt, in die ich durch das Tor der Gefangenschaft eingetreten war, eine<br />

Fiktion war, hat mich fast die ganze Gefangenschaft über und gar nach meiner<br />

sehr späten so genannten «Repatriierung» verfolgt.<br />

Zurück aber zum Erzählfaden! Die beiden Reihen von Pistolenschützen,<br />

zwischen denen unsere Kolonne sich vorwärts bewegte, bestanden aus<br />

Jünglingen mit mongolischen Zügen, die uns angrinsten, f<strong>ro</strong>hlockten und lauthals<br />

schrieen: GHITLER KAPUT, ANTANIESCU TOJE!» (Hitler kaputt, Antonescu<br />

ebenso!). Gleichzeitig erhoben sich aus unserer Kolonne, die aus einem<br />

Gemenge aller Waffengattungen bestand, einige Stimmen, die sich fröhlich<br />

geben wollten und welche, feige und dienstkriecherisch, um den Siegern zu<br />

gefallen, selber auch die gleichen Ausrufe wiederholten, mit kaputt und Hitler und<br />

Antonescu. Ihre gezwungen fröhlichen Ausrufe jedoch, wodurch sie den<br />

Anschein der Freude darüber erwecken wollten, in Gefangenschaft geraten zu<br />

sein, sowie die Sympathie für jene, die sie mit MPs und Bajonett begleiteten,<br />

klangen derart falsch und wenig überzeugend, dass sie von alleine innehielten,<br />

heiser und beschämt. Nachdem wir zwischen den ersten beiden engen Reihen<br />

von fast bartlosen Erscheinungen wie durch ein Tor in die andere Welt traten,<br />

marschierte unsere Kolonne, die von anderen mongolischen Tschassowojs, also<br />

Wächtern übernommen wurde, welche uns in einiger Entfernung begleiteten,<br />

noch eine Viertel Stunde lang, bis wir an eine Stelle kamen, wo alle stehen<br />

geblieben waren, ohne dass man wusste, weswegen.

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