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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 445<br />

125. Odessa<br />

Von Michailowo, dem Filter-Lager (ein Filter, den wir, wie es scheint,<br />

verstopft hatten), wurden wir auf dem Weg, auf dem wir gekommen waren,<br />

wieder weggebracht: Wolga, Eisenbahn, selbstverständlich ohne dass man uns<br />

sagte, wohin, und ebenfalls zur Zeit der Sommersonnenwende (es war<br />

ausgemachte Sache, dass wir entweder zu Sonnenwenden oder Äquinoktien<br />

reisten). Nachdem wir aber die Wolga und das Spinnennetz von Eisenbahnlinien,<br />

Weichen und Haltestellen, das der Moskauer Bahnhof war, hinter uns gelassen<br />

hatten, stellten wir unfehlbar fest, dass es gen Süden ging. Übrigens war auch<br />

die Wachsamkeit der Wachmannschaft entspannter, denn der Laden am<br />

Fensterchen des Viehwaggons wurde nicht immer geschlossen, und auf den<br />

Stationen, wo wir zu essen bekamen, hielt unser Zug mitunter sogar am<br />

Hauptgleis, was uns erlaubte, herauszubekommen, wo wir waren, und Leute zu<br />

sehen.<br />

Nun, vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 31 nach<br />

dem des Ersten, sahen die Bahnhöfe genau so aus, also wie zu Zarenzeiten,<br />

freilich mit der in drei Jahrzehnten angewachsenen dicken sowjetischen<br />

Schmutzschicht. Was die Bevölkerung betrifft, ihre Kleidung, ihr physisches<br />

Aussehen, ihre Moral, da schweige ich lieber. Die einzigen blühenden Fressen<br />

besaßen die Beamten und die Militärs.<br />

Von allen Bahnhöfen, durch die wir kamen, beeindruckte mich jener von<br />

Wo<strong>ro</strong>nesch bis zur Erschütterung, und zwar durch seine besonders g<strong>ro</strong>ße<br />

Anzahl von Invaliden und Verstümmelten. Und darunter befanden sich nicht nur<br />

Männer, sondern auch Frauen und, o weh, Kinder! Auf diesem Bahnhof, der die<br />

noch nicht ganz vernarbten Wunden der schrecklichen Luftbombardements zur<br />

Schau stellte, kamen auf acht-neun Menschen einer mit Krücken oder mit einem<br />

leer im Wind flatternden Ärmel, als habe es sich hier um den Wartesaal einer<br />

chirurgischen Klinik gehandelt.<br />

Bald merkten wir dann, dass wir uns inzwischen auf dem Territorium der<br />

Ukraine befanden. Auf einem g<strong>ro</strong>ßen und unbekannten Rangierbahnhof hörten<br />

wir nach einem langen Halt, wie neben uns eine Garnitur Viehwaggons gezogen<br />

wurde, und bald darauf auch ein Stimmengewirr, aus dem heraus zigeunerische<br />

Phoneme zu erkennen waren. Einer von uns stieg auf die Pritsche und sah durch<br />

das vergitterte Fensterchen tatsächlich in der weit geöffneten Tür des<br />

benachbarten Waggons eine Zigeunersippe, die sich erregt unterhielt. Belebt von<br />

dieser Nachbarschaft versuchten wir, unsere Tür auch zu öffnen, und<br />

glücklicherweise war sie unverschlossen. Der Tschassowoj, der uns das Essen<br />

gebracht hatte, hatte vergessen, den Riegel vorzuschieben. Wir öffneten sie weit<br />

und drängten uns in den Türrahmen. Die beiden Gruppen musterten einander<br />

erstaunt.<br />

„Was ist mit euch?“, fragten wir sie.<br />

„Wir sind Zigeuner aus Rumänien“, antworteten sie verwundert darüber,<br />

Rumänisch zu hören. „Und ihr, was seid ihr?“

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