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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 243
60. DAS NIBELUNGENLIED
Weil unser Weggang bevorstand, überlegte ich, bis zum Gebäude der
deutschen Offiziere zu gehen, wo ich einige Freunde hatte, um mich von diesen
zu verabschieden. Einer davon war Oberst Ebner – ein äußerst feinsinniger und
gebildeter Ostpreuße, dem ich auch ein Buch zurückgeben musste.
Ich betrat die Eingangshalle und stellte fest, dass vor dem Schlafsaal ein
junger Leutnant 116 aufgestellt war (den ich übrigens vom Sehen her kannte), der
mir geniert mitteilte, dass er Befehl habe, momentan niemanden einzulassen. Da
ich glaubte, es handle sich wohl um irgendeine Sitzung, nahm ich auf einer Bank
Platz und wartete auf die Aufhebung des Befehls. Von drinnen hörte man
gedämpft die ernsten und traurigen Akkorde eines Männerchors. „Was mag hier
nur los sein? Wen betrauern die denn?“, fragte ich mich besorgt, als die Tür
aufging und ein alter Bekannter auftauchte, Oberst Schmied. „Schau doch mal
rein!“ antwortete er auf meinen fragenden Blick, und dem Wache schiebenden
Leutnant bedeutete er mit einer Geste, mich eintreten zu lassen. Drinnen waren
alle Pritschen leer; alle waren am anderen Ende des Saales um einen
brennenden Herd versammelt (wir hatten Juli!), standen unbeweglich und
verhalten da und sangen mit Tränen in den Augen jenen Herz zerreißenden
Trauermarsch, während einer nach dem anderen auf den Rhythmus der Musik
zum heiligen Feuer trat und seine Offiziersabzeichen und Orden in die
züngelnden Flammen warf. Mir fiel ein, dass man uns unlängst einen Beitrag aus
der Iswestija vorgelesen hatte, worin es um die Bedingungen ging, welche den
Deutschen nach der Kapitulation auferlegt worden waren, darunter sich auch die
Auflösung der Wehrmacht befand. Demnach hätten sie nicht mehr das Recht
gehabt, Grade und Orden zu tragen, weswegen sie, um der Demütigung der
Degradierung auszuweichen, es vorzogen, diese Abzeichen der Ehre und des
Stolzes selber dem Feuer preiszugeben. Ich gab Ebner das Buch, schüttelte
schweigend seine Hand und verließ auf Fußspitzen diese Opferzeremonie mit
dem seltsamen Gefühl, dass ich über einen weiten Zeitbogen hinweg Zeuge
eines tragischen Kapitels aus ihrem großen Epos Das Nibelungenlied gewesen
war.
116 Deutsch im Original.