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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 88<br />

20. DIE THERAPEUTIK DER FIKTION<br />

An einem Morgen jedoch wurden wir Zeugen einer ganz besonderen<br />

Lobrede. Der Tote war ein junger Grundschullehrer aus der Gegend von<br />

Suceava 37 , der aus einer armen Familie mit zwölf Kindern stammte. Um zu<br />

lernen und seinen Unterhalt zu bezahlen, hatte er Nachhilfestunden geben<br />

müssen. Er hatte es schwer gehabt, sein Diplom zu machen. Er war verlobt<br />

gewesen, und seine Geliebte war an Tuberkulose gestorben. All dies erzählte<br />

uns ein ehemaliger Kollege der Normalschule, der aus der gleichen Gegend<br />

kam, und dies in so ergreifender Weise, dass vielen – auch mir – die Tränen in<br />

die Augen schossen.<br />

„Gott vergebe ihm!“, schloss der Erzähler ab und zog dem Toten die<br />

Strümpfe aus. „Amen“, wiederholte im Chor der Waggon. Als in das f<strong>ro</strong>mme<br />

Schweigen, welches den Übergang der unglücklichen Seele ins Reich der<br />

Ewigkeit begleitete, von der gleichen Pritsche des Toten und seines Lobredners<br />

eine höhnische Stimme zu hören war:<br />

„Was für eine Dreistigkeit, so ausführlich das Leben eines Menschen zu<br />

beschreiben, den man niemals gekannt hat!“ Bestürzung im ganzen Waggon.<br />

„Ja, meine Herren Kameraden, die ihr die Geschichte eines so<br />

unglücklichen Lebens mit je einer Träne begossen habt, wisst, dass all diese<br />

rührenden Erlebnisse, die Familie mit zwölf Kindern, mit der lungenkranken<br />

Verlobten und anderem Geschwätz Erfindungen dieses Ehr- und<br />

Achtungswürdigen sind. Seit gestern, als er bemerkte, dass der arme Mann am<br />

Sterben ist und er seine Sachen erben könnte, als Freund und Kollege, seit<br />

gestern, wie gesagt, hat er ihn – flüsternd, versteht sich – beständig ausgefragt,<br />

um ihm diesen pathetischen Nachruf zu verfassen. Das einzig Wahre dran ist der<br />

Name des Toten. Den er auf dessen Rucksack mit Tintenstift geschrieben lesen<br />

konnte. Der Rest ist Erfindung und Hochstapelei.“<br />

„Aber worauf stützen sie sich denn, deine Anklagen?“<br />

„Darauf, dass ich – und nicht du – Kollege mit dem Verstorbenen war;<br />

nicht in der «Normalschule! aus Suceava, sondern in der «Handelsschule! in<br />

Jassy 38 . Pass auf, es gibt noch einen unserer Kollegen in diesem Zug und falls<br />

wir es denn schaffen, diesen Zug lebend zu verlassen, werde ich euch bekannt<br />

machen. Dies für den Fall, dass du das von mir Gesagte bezweifelst.“<br />

„Ich gestehe“, erwiderte der andere, „dass sich in meine Lobrede wohl<br />

auch kleine Ungenauigkeiten haben schleichen können.“<br />

„Kleine Ungenauigkeiten – so nennst du die Erfindungen deines Hirns?“<br />

„Also bitte, Erfindungen, Fantasien, nennt sie, wie ihr wollt. Das ist nicht<br />

wichtig. Wichtig ist, dass ein Mensch gestorben ist und nicht ein Hund. Und wenn<br />

ein Mensch stirbt, werden an seinem Kopfende ein paar Worte gesagt. Wenn ich<br />

über ihn rührende Dinge gesagt habe, dass den Leuten die Tränen gekommen<br />

37 Kreis und Kreishauptstadt im Norden Rumäniens, in der Südbukowina.<br />

38 Kreishauptstadt in der Moldau. Ehemalige Hauptstadt des Fürstentums Moldau.

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