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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 71<br />

12. DAS BEDÜRFNIS NACH SCHÖNHEIT<br />

Von da an verlieren meine Erinnerungen ihre ch<strong>ro</strong>nologischen<br />

Bezugspunkte und stellen nur mehr vereinzelte Ereignisse, Medaillons gleich,<br />

dar.<br />

Zum Beispiel diese blut<strong>ro</strong>te, dem <strong>ro</strong>ten Saft der Blutorange ähnliche<br />

Abenddämmerung, wie es so viele in den russischen Wintern gibt. Vor uns, am<br />

Saume eines Waldes, erhob sich eine Reihe von Kiefern, deren schwarze und<br />

knorrig-verbogenen Stämme am Himmel eine Art geheime Schrift abgaben.<br />

Zwischen diesen Hie<strong>ro</strong>glyphen jedoch konnte ein geübtes Kämpferauge auch die<br />

Silhouetten moderner Jagdflieger erkennen.<br />

Es war anscheinend ein gut getarnter Luftstützpunkt. Von da aus kommt<br />

uns, die Kolonne entlang, eine Gruppe von Piloten entgegen, Männer und<br />

Frauen.<br />

Was mich an ihrer Erscheinung beeindruckte, war die Schlankheit der<br />

Silhouetten, die rassige Linie, waren die langen Gesichtszüge, die jungen und<br />

schönen Antlitze. Selbst ihre Ausrüstung hatte ein modernes und tadelloses<br />

Design. Hätten sie nicht Russisch gesp<strong>ro</strong>chen, hätte ich glauben können, vor<br />

Science-Fiction-Figuren in einer Sequenz aus einem parallelen Universum zu<br />

stehen, die aus einem technischen Versehen heraus in unserem irdischen Raum<br />

aufgetaucht waren, so sehr verschieden waren ihre Antlitze von der gemeinen<br />

Typologie der russischen Physiognomien, an die ich mich bis dahin gewöhnt<br />

hatte. Es war, als seien sie aus einem Geschlecht von Hyperboreern oder<br />

Varègues, verkleidet als Piloten der Gegenwart.<br />

„Seien Sie vernünftig, Herr Leutnant!“, riss mich Cre]u aus meinen<br />

Betrachtungen. „Was heißt hier Hyperboreer, Varègues? Dies sind Filmkünstler.<br />

Was ist denn das Riesending dort drüben etwas anderes als eine Filmkamera?“<br />

Mich kümmerte es aber wenig, ob es nun Schauspieler oder echte Piloten<br />

waren. Egal, ob Ersteres oder Letzteres, für mich blieben sie herrliche Exemplare<br />

unserer Spezies. Inmitten der menschlichen Hässlichkeit, die mich von allen<br />

Seiten erdrückte, nahm ich diese Erscheinung von Jugend und Schönheit mit<br />

Staunen und Entzücken auf. Und damals stellte ich fest, dass in unserem Leben,<br />

vor allem in Grenzsituationen, die Schönheit genau so sehr ein Bedürfnis ist wie<br />

Luft und Wasser.

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