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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 320<br />

müssten doch verstehen, wie schwer es ihm falle, nach vier Jahren zu<br />

akzeptieren, dass wir immer noch weiter gen Osten gebracht wurden. Freilich<br />

verstanden wir das. Nichts ist schwerer zu akzeptieren als das Offensichtliche…<br />

dann, wenn dieses einem zuwider ist.<br />

Und es wurde wieder Abend und Nacht und dann wieder Tag, und der Zug<br />

fuhr in die gleiche verfluchte Richtung. Bis wir den Eindruck hatten, dass er leicht<br />

nach Südosten abbog.<br />

Seit einiger Zeit versäumten es die Wächter, die Vorhänge wieder<br />

zuzuziehen, nachdem sie den Waggon gelüftet hatten, oder auch hatten sie es<br />

satt, weiterhin mit dem Kopf im Sack, wie wir auch, zu reisen.<br />

Wie wunderbar doch der Augenblick war, als die Herbstfarben gewaltig<br />

durchs Fenster vom Gang in unsere graue Welt hereindrangen. Abwechselnd<br />

zwischen Nebeln und Nieselregen und Zonen intensiven Sonnenlichts verfolgten<br />

wir hungrig, wie die herbstliche Taigalandschaft an uns vorbeizog, mit ihren<br />

verhaltenen atmosphärischen Graufarben bis hin zum brennenden Orange der<br />

Birkenwälder.<br />

Selten und bloß für kurze Dauer machten wir auf obskuren Bahnhöfen<br />

Halt, wo die Wächter die Fenstervorhänge zuzogen, wohl um uns vor einer<br />

„Überbelichtung“ durch das Tageslicht und die Blicke der Neugierigen von den<br />

Bahnsteigen zu „schützen“. So überquerten wir die Wolga dort, wo sie sich mit<br />

Kama, jenem St<strong>ro</strong>m, der breiter ist wie sie, trifft, und wo unweit sich das g<strong>ro</strong>ße<br />

Kasan befindet, die alte Residenzstadt der Tataren, deren Kreml wir während der<br />

Fahrt durch das Fenster auf dem Gang erblicken konnten. Dort, auf einer<br />

Seitenlinie, trennte man uns von dem Personenzug, der uns von Schonika<br />

übernommen hatte, und nach einer unbestimmten Wartezeit wurden wir an einen<br />

anderen angekoppelt. Von den flüchtig wahrgenommenen Städten habe ich eine<br />

behalten – Arsamas, mit einer Reihe von weißen Häusern bis an den Horizont<br />

hin unter einem geheimnisvollen lilafarbenen Himmel. Anscheinend war ich<br />

dieser Stadt schon mal auf einem anderen Transport unter den gleichen<br />

Lichtverhältnissen begegnet, denn unter dem prägenden Einfluss dieser<br />

aufwühlenden Vision bin ich ihr nachher mehrere Male begegnet, allerdings im<br />

Traum. Deswegen könnte ich auch nicht sagen, wie viel davon nun aus der<br />

realen, wie viel aus der Traumwelt ist. Nun gut, die Reise ging am Ufer der<br />

Wolga entlang weiter, und irgendwann hielt der Zug längere Zeit auf einem<br />

Bahnhof. Wir spürten, wie unser Waggon von der Hauptzuggarnitur abgekoppelt<br />

wurde. Wir wussten damit, dass unsere Reise im Sing-Sing-Verbrecherwaggon<br />

zu Ende war. Aufgrund unseres gehobenen Gefährlichkeitsgrades waren wir<br />

unter weitaus besseren Bedingungen als jene in den Viehwaggons für die<br />

gewöhnlichen Gefangenen gereist. Na ja, Noblesse oblige! Nach einer gewissen<br />

Wartezeit teilte man uns mit, unser Gepäck zu nehmen und auszusteigen.<br />

Die Gegend, die wir nun betraten, war desolat. Schmutzige, zerlumpte<br />

Menschen mit Eisenschaufeln in den Händen werkelten an Haufen zerkleinerter<br />

Kohle auf einem Bahnhof, auf dessen Schild Jelenodol (Grünes Tal) stand. Es<br />

erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass es nicht die Spur eines grünen Atoms im<br />

stumpfen und schmutzigen Grau existierte, dass uns umgab. Die neue<br />

Bewachungsgarde übernahm uns. Die Alten und Kranken, darunter wir auch – zu<br />

unserer Freude – Oberst {tefanovici erblickten, wurden auf einen Laster

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