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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 86<br />

Bestandteil des Lebens in Haft kennen lernen, ja sogar auch später, nach der<br />

Repatriierung, als eine existentielle Dimension des kommunistischen Raumes,<br />

der ja im Wesentlichen auch nur einen Gefängnisraum darstellte.<br />

Schließlich fuhr der Zug los, und mit seiner wankenden<br />

Vorwärtsbewegung überströmte mich das schwarze Wasser des Schlafes. Ich<br />

träumte von mir, wie ich genau so dalag, wie ich es tat, erdrückt in einer<br />

Waggonecke und ohne mich bewegen zu können. Ich wusste, dass ich träumte,<br />

versuchte, aufzuwachen und konnte dies nicht, so dass ich gefangen blieb, am<br />

Ersticken vor Schrecken davor, in den schwarzen Wassern dieses<br />

Höllentraumes zu ertrinken. Das Morgengrauen und das Aufwachen der anderen<br />

rissen mich aus dieser grässlichen Katalepsie. Auf allen Vieren wand ich mich<br />

aus der entsetzlichen Höhle und schwor mir, lieber auf dem Fußboden in der<br />

Mitte des Waggons sitzend zu schlafen, als noch einmal in dies schwarze Loch<br />

zu kriechen. Auch andere Gefangene k<strong>ro</strong>chen unter und aus den Pritschen<br />

hervor, um ihre Glieder zu strecken. Ich betrachtete sie und hatte das Schwindel<br />

erregende Gefühl, alle Gesichter seien Varianten ein und desselben Antlitzes:<br />

jenes des „Hässlichen“. Alles war entsetzlich und abscheulich; nicht bloß unsere<br />

schmutzigen, bärtigen Gesichter, sondern auch und vor allem die Gerüche,<br />

angefangen mit denen unserer Notdurft aus dem Abortloch bis hin zu denen<br />

unserer seit bitter langer Zeit ungewaschenen Leiber. Und als Folge des<br />

Gedränges entfesselte sich furienhaft eine neue Plage: jene der Läuse. Während<br />

des Marsches waren sie erträglich gewesen, der F<strong>ro</strong>st hatte sie gezügelt, jetzt<br />

aber, da sie von Mensch zu Mensch wandern konnten und auch etwas Wärme<br />

fanden, hatten sie sich erschreckend stark vermehrt. Die Läuse waren<br />

schlichtweg an die Stelle des F<strong>ro</strong>stes getreten, damit jeder Augenblick auch ja<br />

einer des Schmerzes sei. Was mich betrifft, so hatte sich an meinem Hals von<br />

den vielen Läusebissen ein <strong>ro</strong>ter Streifen gebildet, der einem Hundehalsband<br />

glich und wahnsinnig juckte.<br />

Und vom Hunger wäre nicht viel mehr zu sagen, als dass er den Grundton<br />

all unserer Qualen abgab. Ihn überlagerte nun auch der Durst. Wir bekamen<br />

Salzfisch (Siliotka) und Zwieback (Sucharej) zu essen, aber kein oder<br />

verschwindend wenig Wasser, wie es der Zufall wollte, was dazu führte, dass<br />

sich ein fürchterlicher und unerträglicher Durst einstellte. So kam es, dass einige<br />

von uns die Eisenbeschläge von der Tür, die von Raureif bedeckt waren,<br />

ableckten. Um mich vor dieser Tortur zu bewahren, die von unseren<br />

Konvoimännern absichtlich veranlasst worden war, beschloss ich, den Fisch und<br />

den Zwieback nicht zu verzehren, solange es kein Wasser gab, und verstaute<br />

diese in meinem Rucksack, auf dem ich saß – auf dem Fußboden, wie gesagt, in<br />

einer Yogastellung.<br />

An einer Haltestelle öffnete sich die Tür, ein Konvoimann erschien und<br />

verlangte einen Mann zum Wasserholen. Ich erhob mich, ergriff zwei Kübel und<br />

sprang aus dem Waggon. Die frische und kalte Luft von draußen traf mich wie<br />

ein Keulenschlag vor die Stirn. Ich wankte schwindlig zum Pumpbrunnen am<br />

Ende des Bahnsteigs. Darauf wartend, an die Reihe zu kommen, sah ich, wie<br />

aus allen Waggons mehr oder weniger entkleidete Kadaver gehoben wurden.<br />

Unsere Soldaten zogen sie irgendwohin jenseits des Brunnens, wo sie die<br />

Leichen – eine Reihe längs, eine Reihe quer – aufstapelten. Nachdem ich die

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