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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 202<br />

ein Obersergeant den Hof machte. All dieses bekam Konturen und wurde mit<br />

Rührung und Humor zum Leben erweckt.<br />

An den langen und von Hunger geprägten Winterabenden lauschten wir<br />

vor dem Zapfenstreich mitunter auch zum zweiten oder zum dritten Mal der<br />

gleichen Geschichte, die er stets frisch und angereichert zu erzählen wusste.<br />

Wenn er den „Spannungs“-Punkt erreichte, wurde seine Stimme nach und nach<br />

schwächer, er ächzte und schluckte t<strong>ro</strong>cken, um dann plötzlich wie ein<br />

Grammophon, das neu angekurbelt werden muss, aufzuhören.<br />

„Und… was geschah weiter?“ riefen die Zuhörer empört.<br />

„Leute“, antwortete er mit einer tragischen Miene, „ich hab einen Knoten in<br />

der Kehle und kann nicht mehr sprechen. Habt doch etwas Geduld, damit ich<br />

mich erhole, dann erzähle ich weiter.“<br />

„Hier, nimm, Ionic\, das ölt deine Stimme!“ Und aus drei, vier Richtungen<br />

wurde ihm je ein Stückchen B<strong>ro</strong>t und ein Kännchen Tee gereicht. Nachdem er<br />

langsam und gründlich – die Ungeduld des Publikums steigernd – die B<strong>ro</strong>tbissen<br />

kaute und nach jedem einen Schluck Tee trank, nahm er dann also gestärkt den<br />

Faden der Geschichte wieder auf und führte diese zu Ende. Die befriedigten<br />

Zuhörer belohnten ihn mit ausgiebigem Applaus, dann gingen sie zu ihren<br />

Betten, und ein jeder legte unter sein Kissen eine Scherbe vom Himmel der<br />

Heimat und ein Brösel Licht aus Ionic\s Kindheitsgeschichten. Dazu war es aber<br />

auch Zeit, denn fast jedes Mal öffnete sich bei Erzählende plötzlich die Tür und in<br />

dem sofort entstehenden Nebel konnte man die Silhouette des Tschassowojs<br />

vom Dienst erkennen, der hereinrief:<br />

„Sto takoi? Miting? Idi spati!...“ (Was gibt’s denn hier? Ein Meeting? Los,<br />

schlafen gehen!“)<br />

Ein anderer Erzähler, den das Orankipublikum sehr mochte, war ein<br />

Rechtsanwalt aus Ia[i namens Iliescu. Er war Sanitäter im Arztkabinett und<br />

konnte stets mit einem tadellos weißen Kittel über der Wattejacke inmitten einer<br />

sich vor konvulsivischem Gelächter schüttelnden Gruppe gesehen werden. Er<br />

beseelte seine fast immer witzigen Geschichten mit unwiderstehlich komischer<br />

Mimik und Gestikulation. Die Welt seiner Erzählungen war das Studentenleben<br />

im süßen Jassy vergangener Tage, die moldauische Entsprechung des<br />

Heidelbergs von einst. Aus dem, was er erzählte, konnte man sich ein Bild<br />

machen davon, wie viel Klugheit und Phantasie er verschwenden musste, um<br />

ohne einen Heller in der Tasche t<strong>ro</strong>tzdem zu überleben. Vor unseren Augen zog<br />

die Welt der billigen Kneipen vorbei, aus welchen man sich nach dem Essen in<br />

englischer Manier, ohne zu zahlen, verdrückte; die Welt der möblierten Zimmer<br />

mit üppigen und libidinösen Vermieterinnen, die man ausdribbelte und nach ein<br />

paar Monaten verschwand, ohne die Miete zu zahlen…; die Welt der<br />

Nachhilfestunden in den Häusern reich gewordener Weiber mit geistig<br />

beschränkten und verwöhnten Kindern… Alles gut verwoben mit je einer<br />

diskreten Liebesgeschichte, welche stets ein trauriges Ende hatte… Kurz, eine<br />

wahre Boheme, zu der auch ein bisschen sympathische Flegelei gehörte, die<br />

aber jenseits des witzigen Schleiers der Farce filigran auch das triste Antlitz einer<br />

von Armut und Zukunftssorgen überschatteten Jugend sehen ließ. Der Erzählton<br />

war aber letztendlich kein pessimistischer, wurde doch stets die alles besiegende<br />

Kraft der Jugend hervor gestrichen.

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