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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 138<br />

33. DAS KLEINE KLOSTER<br />

Der schwere Weg durch das Herz der Taiga an einem f<strong>ro</strong>stigen Morgen<br />

mit soviel Sonne, dass die Schatten der riesigen Kiefern und Fichten im Schnee<br />

blau wie der Himmel schienen, dieser so ermüdende Weg für unsere<br />

geschwächten Glieder war t<strong>ro</strong>tzdem wohltuend. Die kalte Luft reinigte unsere<br />

Lungen, die so lange schon von der abgestandenen Seuchenluft der Quarantäne<br />

erstickt worden waren.<br />

Desgleichen verloren unsere Kleider auch jenen ekelhaften Gestank des<br />

Typhuslazaretts. Wir gelangten zwar erschöpft, aber irgendwie auch regeneriert<br />

vor das Stacheldrahttor des Skit-Lagers im Herzen des Waldes. Das kleine<br />

(ehemalige) Kloster, aus Scheinziegeln erbaut, war t<strong>ro</strong>tz der fehlenden Kreuze<br />

als eine mönchische Anlage zu erkennen, als eine vor der Welt und ihren<br />

Versuchungen mitten im Wald versteckte Einsiedelei, die man erst entdeckte,<br />

wenn man mit der Nase unerwartet gegen ihr Tor stieß, ähnlich wie im Falle<br />

vieler unsere rumänischen Einsiedeleien, die genauso verborgen im Schoße des<br />

brüderlichen Waldes lagen, auf dass nur jene sie finden, die ihrer würdig sind.<br />

Hier werden wohl geläuterte Mönche sich dem „Gebet des Herzens“ hingegeben<br />

und den Frieden und die Gnade mit vielen Gläubigen und Pilgern geteilt haben,<br />

welche von einem Ende bis ans andere das Heilige Russland durchwanderten,<br />

bis dann die Teufelsmächte mit dem <strong>ro</strong>ten Stern auf der Stirn und der<br />

Satanskralle am Herzen über sie herfielen, um ihre Altare zu schänden, ihre<br />

Kreuze herunterzureißen und sie zu vertreiben oder gar umzubringen. Und nun<br />

unterstrichen der doppelte Stacheldrahtzaun, die Wachtürme an den Ecken, der<br />

Stern über dem Tor und die Losung darunter in Rot die gegenwärtige<br />

Verwendung dieses „Glaubensherds“ von einst.<br />

Immerhin aber fühlten wir uns hier etwas besser. Wir waren geschützt vor<br />

der Kralle des Typhus und in unserer Isolierung fern auch von jener des<br />

Kommissariats. Das Essen war, verglichen mit jenem in Oranki, erträglicher,<br />

dadurch dass weniger aus dem Kessel gestohlen wurde, gab es doch hier<br />

sowohl weniger Dienstpersonal, als auch eine kleinere politische Klientel.<br />

Untergebracht waren wir im Obergeschoss, in einem g<strong>ro</strong>ßen Raum, der einst als<br />

Kapelle gedient hatte und weite Fenster besaß, die einen wunderbaren Ausblick<br />

zum Wald hin boten. Auch heute noch erinnere ich mich an eine g<strong>ro</strong>ßartige Birke<br />

gleich vor meinem Fenster. Im Mondschein zeichneten sich am kristallklaren<br />

Himmel ihre Äste bis auf das kleinste Zweiglein ab, mit deren Hilfe der Baum – in<br />

meiner Vorstellung – aus den Himmelsgewölben ein göttliches Getränk sog, um<br />

dieses über seine tausenden von Wurzeln an die Erde weiterzugeben und damit<br />

zu verklären. Der Baum suggerierte mir in etwa, welches unsere Aufgabe auf<br />

Erden ist: Mindestens ein Tröpfchen des göttlichen Trunks zu uns zu nehmen<br />

und an die Welt weiterzugeben, um aus dieser nicht etwa – Gott behüte – ein<br />

„Paradies auf Erden“ zu machen, sondern ein etwas erträglicheres<br />

Lebensgefilde. Ich könnte sagen, dass sich an diese lebendige Metapher der<br />

Kopf stehenden Birke, mit den Wurzeln gen Himmel und den Gnadenfrüchten

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