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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 35<br />

heute Nacht, auf der Suche nach einem phantomhaften Kommando, verirrt<br />

hatten, und nur das Glück, uns an unseren Schüssen erkannt zu haben, habe<br />

ihnen den richtigen Weg gezeigt. Auch er hatte den russischen Chor<br />

vernommen, aber nach den ersten Explosionen hatte er auch Gebrüll,<br />

Wehklagen und Flüche gehört, die dann zunehmend vom Nebel geschluckt<br />

worden seien, bis sie gänzlich abstarben.<br />

Ich half ihm auf einen Pferdewagen, wo er sich ausruhen und etwas essen<br />

konnte, dann befahl ich den Aufbruch im Galopp. Wir hatten aber nicht einmal<br />

einen Kilometer zurückgelegt, als uns eine Reitergruppe vom<br />

Regimentskommando einholte, an der Spitze mit meinem guten Freund<br />

Unterleutnant Mihai R\ducanu, mit dem ich während der Kampagne des<br />

vergangenen Sommers in Odessa nicht weniges durchgemacht hatte.<br />

„Tach, R\ducu! Wo ist denn der Hauptmann?“<br />

„Der ist mit einem deutschen LKW vorausgefahren, um die neue Stellung<br />

ausfindig zu machen, jene des… «Anhaltens ohne Rückzugsgedanken»”.<br />

„Quatsch! «Eure neue Stellung» ist seit gestern Abend in den Händen des<br />

Feindes, genau so wie auch die Brücke über den Donez. Schau, dies ist eure<br />

neue Marsch<strong>ro</strong>ute“ – und er reichte mir ein Blatt. „Ade, R\ducu! Wir haben ja so<br />

was allemal schon durchgemacht” – und, sein Pferd herumreißend, galoppierte<br />

er mit seinen Reitern los, auf der Suche nach anderen Batterien. Der Befehl<br />

bedeutete eine totale Richtungsänderung, was mir alles andere als beruhigend<br />

erschien. Als Endpunkt hatte man uns die Ortschaft Klezkaja angegeben. Dieser<br />

Name sollte mir einer Obsession gleich im Gedächtnis hängen bleiben, er fiel mir<br />

immer wieder ein, sooft ich an die Ereignisse denken musste, welche dem<br />

existentiellen Riss in meinem Leben vorausgegangen sind: dem Fall in die<br />

Gefangenschaft.<br />

Es war Nacht geworden. Ich ritt im Trab an der Spitze der Kolonne und<br />

zwang mich dazu, meine Gedanken zu sammeln, um unsere Chancen, von hier<br />

zu entkommen, so realistisch wie möglich abzuschätzen. Ich hatte das Gefühl,<br />

dass der Befehl, den ich bei mir trug, die letzte Verbindung mit den<br />

«Vorgesetzten» darstellte und dass von jetzt an von nirgendwo weitere folgen<br />

konnten, so wie auch die Versorgung mit Munition und Lebensmitteln ausbleiben<br />

würde; dass wir damit zurechtkommen mussten, was wir bei uns trugen, und<br />

dass nun ich es war, der in Augenblicken der Gefahr die Entscheidungen zu<br />

treffen hatte, die keinen Aufschub zuließen und von denen das Schicksal aller<br />

abhing.<br />

In dem Maße, in dem wir vorankamen, ließ sich ein schneidender F<strong>ro</strong>st<br />

über die Steppe nieder, und der Nebel, der uns bis dahin eingehüllt hatte,<br />

verwandelte sich in Raureif und bedeckte unsere Mützen und Mäntel, die<br />

Haubitzen, die Pferde und Pferdewagen mit einem weißen Schleier. Im<br />

Mondschein des glasigen Himmels waren wir eine Armee weißer Phantome, die<br />

sich verängstigt vor dem Morgengrauen zurückzog. Wir kamen an Pulks von<br />

Infanteristen vorbei, die schweigend und verd<strong>ro</strong>ssen dahinmarschierten, mit den<br />

Helmen über die in die Augen gezogenen Käppis gestülpt, mit<br />

hochgeschlagenen Kragen und den Mantelschößen gleich zerfetzten Fahnen im<br />

Winde flatternd. Ein Teil von ihnen war verwundet, mit verbundenen Häuptern,<br />

Händen oder Beinen, und wurde von den Kameraden gestützt. Die

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