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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 527<br />

Alle winkten uns fröhlich zu, als wir aufbrachen. Als ich sie so sah, wie sie<br />

dort hinter Gittern zurückblieben, verschleierten mir Tränen die Augen und sie<br />

verschwanden aus meinem Blickfeld. Der LKW setzte sich in Bewegung. Ich fuhr<br />

weg, aber meine Seele blieb dort, im Tor, wie ein Wäschestück am Stacheldraht<br />

hängen.<br />

Der Laster gewann an Geschwindigkeit und fuhr alsbald durch das<br />

kunterbunte und laute Gewusel der Pia]a Rahovei, das meinen neugierigen<br />

Augen – nach neun Jahren Abwesenheit – die ersten Exempel von freien<br />

Menschen in Rumänien zeigte. Wie sahen nun diese Leute denn aus für meine<br />

Augen, die noch das Bild von einst auf ihrer Netzhaut aufbewahrten, als sich die<br />

<strong>ro</strong>te Flut noch nicht über unsere Gesellschaft ergossen hatte?<br />

Kläglich schlecht gekleidet, genau wie jene zerlumpte Menschenmenge,<br />

die wir bei unserer Heimkehr in Odessa gesehen hatten. Die Straßen waren<br />

schmutzig, voller Müll, Zeitungen, Küchenabfällen und ab und zu ein toter Hund<br />

im Straßengraben. „Dies ist halt ein Randviertel”, überlegte ich „mal seh’n, wie’s<br />

denn im Zentrum ausschaut!”<br />

Bei Chirigiu verließ der LKW die Calea Rahovei 198 und bog in die<br />

Uranusstraße ein, vorbei am Staatsarchiv, überquerte die Izvor-Brücke und hielt<br />

für eine gute Weile beim Stoppschild am Boulevard, damit ich auch sehen<br />

konnte, wie es im Zentrum, wie die gute Gesellschaft nun ausschaute.<br />

Für mich, der ich Bukarest im Sommer des Jahres 1942 verlassen hatte,<br />

mit seiner korrekt wenn nicht gar elegant gekleideten urbanen Gesellschaft, mit<br />

Herren, welche auch mitten im Sommer Sakko, Hut und Handschuhe trugen,<br />

wenngleich die jüngeren diese in der Hand hielten; für mich, der ich in meiner<br />

Erinnerung die schönen Frauen Bukarests aufbewahrt hatte, welche abends die<br />

Boulevards mit dem seidigen Rauschen ihrer bunten Kleider und all dem Hauch<br />

von herausforderndem oder diskretem Parfüm füllten, der hinter ihnen<br />

zurückblieb – für mich sah die Kleidung dieser gleichen Gesellschaft, nun unter<br />

einem anderen Sternzeichen (jenem des <strong>ro</strong>ten Krebses), katast<strong>ro</strong>phal aus, sie<br />

zeitigte einen totalen Zusammenbruch des Lebensniveaus und ein allgemeines<br />

Desinteresse was die Haltung betraf, „le maintien” bei den Männern und jene der<br />

elementaren Koketterie bei den Frauen. Da waren etwa ein paar ältere Herren,<br />

übrigens mit vornehmen Figuren, vielleicht „Ehemalige“, die mit bloßem Haupt,<br />

kurzärmeligem Hemd über Drillichhosen und ohne Socken in Sandalen<br />

einhergingen. Und da waren auch eine paar schöne Frauen von einst mit einem<br />

Kopftuch (wo waren sie denn geblieben, die Hüte von einst?), mit Röcken aus<br />

ordinärem, deprimierendem grauen Kattun („Antidreck-“), wie wohl auch die<br />

gesamte gegenwärtige Existenz war, ohne Strümpfe an den Beinen, in<br />

Sandalen. Gemeinsam war für beide Geschlechter, dass sie jeweils eine Tüte in<br />

der Hand hatten – für den Fall, dass es etwas zu „ergattern“ gab.<br />

Freilich, aus heutiger Sicht betrachtet gehören die „Scheußlichkeiten“ von<br />

damals längst zur Normalität, und heute regt sich niemand mehr darüber auf<br />

(auch ich nicht), aber damals, mit den Augen dessen betrachtet, der noch das<br />

Bild der vormaligen Welt aufbewahrt hatte, in der ein gewisser „Kleidungskodex“<br />

funktionierte, dessen Respektierung eine Ehrenaufgabe war, erschienen mir<br />

198 Rahovaer Straße.

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