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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 80<br />

17. ENDLICH, DER BAHNHOF<br />

Schließlich und endlich, nachdem wir fast schon nicht mehr daran<br />

glaubten, das unsere Reise auch ein Ziel besaß (der „Bahnhof“, der<br />

märchenhafte Bahnhof), und es uns zunehmend schien, als bestehe der Zweck<br />

dieses halluzinatorischen Marsches in nichts anderem, als die Steppenwege mit<br />

unseren Knochen zu bedecken, und er, der Marsch, würde erst dann zu Ende<br />

sein, wenn der letzte von uns in die wollüstigen Arme des Todes durch Erfrieren<br />

sinken oder seine Stirn jener Kugel des Thanatos im sibirischen Wattemantel am<br />

Ende der Kolonne feilbieten sollte, nun gut, da ereignete sich das Wunder: Einige<br />

Hundert Meter vor uns tauchte hinter einem Hügel plötzlich und unglaublich,<br />

gleich einer „Fata Morgana“, der Bahnhof auf, das Endziel für die letzten<br />

Überwindungen, derer unsere von F<strong>ro</strong>st und Hunger gebeutelten und vor<br />

Müdigkeit erschöpften Leiber noch fähig waren. Es war der zwölfte Tag dieser<br />

einem Delirium ähnlichen Anabasis. Den von Xenophon angeführten 10.000<br />

Soldaten gleich (eine Ziffer, die auch für uns galt), die beim lang ersehnten<br />

rettenden Anblick des Meeres, von Sinnen vor Glück, „Thalassa, Thalassa!“<br />

ausriefen, so riefen auch wir, die wir noch übrig geblieben waren, wie im<br />

Delirium: „Gara, gara! Der Bahnhof, der Bahnhof!“<br />

Mit Müh und Not, hinke-hinke und mit vor Freude strahlenden Gesichtern<br />

überquerten wir eilig die Bahnlinie, welche die Öde vom einen bis zum anderen<br />

Ende des Horizontes teilte und ließen uns am Bahnsteig dieser winzigen<br />

Haltestelle entlang nieder.<br />

Dass weit und breit kein Zug zu sehen war und der Stationschef uns<br />

selbst auch nur mit einem Seufzer behilflich sein konnte, war gar nicht mehr so<br />

wichtig. Wesentlich war, dass wir uns hier, auf dem schneebedeckten Pflaster<br />

des Bahnsteigs, in Sicherheit fühlten; wir waren der Gefahr, zurückzubleiben und<br />

Opfer der unabwendbaren Kugel des Riesen zu werden, der die Kolonne<br />

abschloss, entkommen.<br />

Eine erste Stufe unseres Leidensweges hatten wir hinter uns, aber wie<br />

viele würden bis hinauf nach Golgotha noch auf uns warten?<br />

Hinter dem Bahnhof und parallel zur Eisenbahnlinie reihten sich ein paar<br />

lange, breite und leere Lagerhallen. Da bis nächsten Morgen kein Zug angesagt<br />

war und mit dem Abend der Schneesturm fühlbar stärker wütete, beschloss<br />

Dwoeglasow, um jetzt keine Verluste mehr an Menschenleben zu verzeichnen,<br />

die Schlösser der Hallen – t<strong>ro</strong>tz des Widerspruchs des Stationschefs – zu<br />

forcieren, um sie als Unterkunft zu benutzen. Als er dann auch mir seinen<br />

Beschluss mitteilte, damit ich diesen den Gefangenen weitersage, stellte er fest,<br />

dass Radu Popescu, den er als einzigen aus meiner ganzen Gruppe kannte, weil<br />

dieser Französischlehrer war, nahe dran am Erfrieren war. Er zitterte am ganzen<br />

Leibe und seine Zähne klapperten. Da bemerkte auch ich den kritischen<br />

Zustand, in dem sich mein Freund befand. Zusammen mit Ivan und ein paar<br />

anderen Jungs schüttelten und massierten wir ihn, so gut wir konnten.

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