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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 287<br />

pelzgefütterte Mütze mit schwarzen, herunterhängenden Klappen, gleich den<br />

müden Schwingen eines Raben, und der rauchende Karabiner in der linken<br />

Hand ließen keine Zweifel darüber, wer sich hinter der Identität dieses<br />

nächtlichen Boten der Finsternis und des Bösen Omens verbarg. Es war der<br />

unverkennbare Schlussmann der Kolonne vom weißen Todesmarathon durch die<br />

gef<strong>ro</strong>renen Steppen des Dons. Jenseits von ihm konnte keine Menschenseele<br />

zurückbleiben, ohne Gevatter Tod ihren Zoll zu zahlen. Ich senkte meinen Blick<br />

zu seinem Partner, den <strong>ro</strong>thaarigen Zwerghund mit krummen Beinen, der den<br />

Erschossenen das Blut vom Antlitz leckte. Statt seiner aber sah ich ein<br />

hässliches Kind, eine schmutzige Missgeburt. Das Kind war barfuss. Mit einem<br />

Händchen hielt es sich am Mantelschoß des Riesen fest, mit dem anderen hielt<br />

es sein Hemdchen hoch, um Pipi zu machen. Ich hob fragend meinen Blick zum<br />

Riesen, aber statt einer Antwort erhielt ich den Versuch eines familiären<br />

Lächelns, das in ein schiefes Grinsen ausartete. Danach lösten sich der Riese<br />

und das Kind im Nebel auf. Ich erwachte aufgewühlt. Es war kurz vor der<br />

Weckstunde. Zweifellos verbarg der Traum ein Vorgefühl. Aber welches?<br />

Ich befand mich freilich auf der Schwelle einer ernsten Entscheidung. Dich<br />

offen als Gegner des sowjetischen Golems zu erklären, der dich – und nicht nur<br />

dich, sondern auch dein ganzes Land – fest in seinen Krallen hielt, war kein<br />

Kinderspiel. Ich stand jetzt vor einer selbstverantworteten Schicksalswende.<br />

„Achtung!“ Vielleicht war es dies, was mir die absonderlichen Boten der<br />

Finsternis sagen wollten. „Achtung! Pass auf, was du machst! Du hast mit<br />

deinem P<strong>ro</strong>testschreiben Salz auf deine Leber gegeben. Pass auf, dass dich die<br />

Salzlake nicht zu teuer zu stehen kommt!“ Aber was konnte ich denn noch tun?<br />

Die Würfel waren geworfen worden. Ich hatte mein Wort gegeben, jetzt gab’s für<br />

mich kein Zurück mehr. Vielleicht bloß dann, wenn es nicht gelingt, die<br />

Mindestanzahl von Zustimmungen (60) zu erzielen, von der der Start der Aktion<br />

bedingt war.<br />

„Wir haben 70 Zustimmungen eingesammelt“, flüsterte mir Victor Clonaru<br />

beim Morgenappell zu. „Die Aktion geht los! Mit Gott voran!“<br />

„Mit Gott voran!“, wiederholte auch ich und bekreuzigte mich, als der<br />

Offizier beim Zählen vor mir anlangte. Ich trat einen Schritt vor und legte unter<br />

seinem verwunderten Blick auf seinen bereits mit einem Stapel von<br />

P<strong>ro</strong>testschreiben beladenen Arm mit Entschiedenheit auch meines. In jenem<br />

Moment fühlte ich, wie mein Schicksal auf jener unbekannten Ebene, die jenseits<br />

unserer sichtbaren Welt liegt, eine neue und risikovolle Wende nahm.

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