radu m|rculescu - Memoria.ro

Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 116
Sanitauren 59 , Bademeister, Teller- und Wäschewäscher – die ruhmreiche Crème
de la Crème der antifaschistischen Bewegung. Massiv, eher aufgeblasen denn
dick, mit schläfrigen Blicken, die von der anstrengenden Verdauung abgestumpft
waren (es war nach dem Mittagessen), mit gedunsenen Gesichtern mit
glänzend-gelblicher Haut, die vom Dampf der Küche, des Bades oder der
Waschküche entfärbt worden war, boten sie unseren Augen ein Panorama
trostloser Entmenschlichung gleich jenem auf den Gemälden Goyas. Gott, was
doch die auf den Hunger folgende Gier aus den Menschen machen kann!
Der Zeitungsartikel brachte eine Zusammenfassung der deutschen
Niederlagen in den letzten beiden Monaten und präsentierte die Eroberung
Stalingrads, inklusive die Gefangennahme von hunderttausenden von deutschen
und rumänischen Soldaten, als eine Sache von ein paar Tagen. Desgleichen
sprach man von den Siegen der Alliierten in Nordafrika, was insgesamt eine
Wende für das Los des Krieges bedeutete und im Endeffekt die absehbare
Niederlage für die Deutschen und für uns, die wir auf die deutsche Karte gesetzt
hatten. Letztere Idee wurde von Codler aufgegriffen und aufs ausführlichste
breitgetreten. Er versuchte uns das Schicksal Rumäniens als besiegtes Land
darzustellen. Selbstverständlich bestand das Ziel dieser Darstellung darin, uns
dazu anzuhalten, darüber nachzudenken, was denn getan werden müsste, um
unser Land vor den Konsequenzen eines solchen Ausgangs zu bewahren. Was
mich an seinem Exposé amüsierte, war die verwirrende Art und Weise, in der er
das Possessivpronomen in der I. Person Plural verwendete. So etwa konnte man
Codler sagen hören „unser rumänisches Volk“, aber auch „unser sowjetisches
Volk“, oder gar „unsere sowjetische Armee wird unser rumänisches Volk von den
Nazis befreien“. Die widersinnigste Formulierung jedoch war diese: „Bessarabien
war und ist Leib vom Leibe unseres Landes“. (Welches Land denn – Rumänien
oder die Sowjetunion? Für ihn, das Lämmchen, das von zwei Schafen saugte,
hatte diese Frage keinerlei Bedeutung. Beides waren unser Land.) So also
gelangten durch ein Possessivpronomen (vielleicht allzu possessiv) sowohl
unser rumänisches Volk als auch unser sowjetisches Volk in den gleichen Topf,
unseren Topf, in einer Vermischung, bei der es keinerlei Zweifel mehr gab, wer
wen schlucken würde.
Das Ende seiner Ermahnung bestand, wie gesagt, in einer Aufforderung
zum Nachdenken über das, was gemacht werden musste, um „unser“ Land aus
dem Krieg rauszuholen. Einem kommunistischen Prinzip gemäß sollten die
hierzu nötigen Maßnahmen nicht als von oben diktiert erscheinen, sondern als
spontane Lokalinitiative hervorsprudeln. Obschon lange vorher schon in Moskau
ausgehegt und vom Kommissar bis ins kleinste Detail seinen Mitarbeitern
präsentiert, musste das Schema dieser Aktion vor dem Publikum als eine
spontane Schöpfung dieser Mitarbeiter auftreten, als Vorschläge von unten, also
von ihnen, die an die von oben gerichtet wurden, mit untertäniger Bitte um
Bewilligung. Diesem Schema zufolge fragte der Kommissar, ob denn jemand
einen Vorschlag zu machen habe und sofort erhob sich am linken Ende des
roten Tisches ein Kerl, der ums Wort bat. Sowie er zu sprechen anfing, erkannte
ich ihn: Es war mein ehemaliger Bettnachbar, der gleich zu Beginn der
59 Ähnliches Wortspiel: sanitar (Sanitäter) plus taur (Stier) ergibt sanitaur.