04.09.2013 Aufrufe

radu m|rculescu - Memoria.ro

radu m|rculescu - Memoria.ro

radu m|rculescu - Memoria.ro

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 484<br />

antwortete er. «Perfekt, dahin will auch ich». Am Bahnhof mischte ich mich unter<br />

die kunterbunte Menge, die da auf ihrem Gepäck vor sich hindöste und fühlte<br />

mich richtig sicher. Ich machte einen Rundgang durch den Wartesaal. Der war<br />

voller Reisenden, die auf den Bänken, auf den Tischen, auf dem Boden<br />

schliefen. (Wie im Palast Dornröschens, Anm. d. A.) Ich sah einen<br />

stockbesoffenen Mann, der mit dem Gesicht in der eigenen Kotze lag und aus<br />

dessen offenen Hintertasche die Brieftasche hervorlugte. Ich nahm ihm sie ab<br />

und verschwand. Unter den Papieren befand sich außer Geld auch ein Pass mit<br />

einer Fresse, die der meinen recht gut ähnelte, aber der Gipfel des Glücks war,<br />

dass er eine Fahrkarte für Rumänien hatte, mit der Abfahrt in einer halben<br />

Stunde! Ich setzte mich in ein leeres Abteil, nicht ohne mir vorher eine Zeitung<br />

und ein paar Flaschen Wodka zu kaufen (als Dekor für den Augenblick der<br />

Verzollung und der Kont<strong>ro</strong>lle) und ging daran, die Papiere zu studieren, um mit<br />

meiner neuen Identität Bekanntschaft zu schließen. Ist gar nicht mehr wichtig, dir<br />

zu sagen, wer ich war. Es reicht, wenn du erfährst, dass mich der Zollbeamte<br />

und der NKWD-Mann ehrfürchtig grüßten.“<br />

Dies war also seine Geschichte. Die ich als solche aufgenommen habe,<br />

genau so, wie er sie mir erzählt hatte, wenn sie auch Elemente aufwies, die Platz<br />

für Zweifel übrig ließen. Allzu sehr hatte alles perfekt gepasst. Erst der LKW mit<br />

den blendenden Scheinwerfern (um die Wachposten zu blenden), dann die<br />

Fahrtrichtung, der Bahnhof mit dem Betrunkenen und seiner offenen<br />

Hintertasche und schließlich der Pass und die Fahrkarte! Da hatte alles zu sehr<br />

gepasst, gerade so, als habe jemand perfekt Regie geführt. Letztlich akzeptierte<br />

ich die Geschichte.<br />

Aber im Lager von Periprava gab es auch noch andere ehemalige<br />

Kriegsgefangene. Da war auch Lambie Papadopol, auch Will Popescu. In den<br />

drei Jahren Aufenthalt, die uns die Securitate in dieser allzu gastfreundlichen<br />

Gegend geschenkt hatte, sprach ich auch mit ihnen sowie auch mit anderen über<br />

diesen Fall. Komisch: Keine der Versionen, die sie desgleichen von Sandu<br />

Gabriel erfahren hatten, passte mit der zusammen, die er mir geliefert hatte, und<br />

auch untereinander passten sie nicht zusammen. Sogar vor kurzem, bei einem<br />

intimen Veteranentreffen, erfuhr ich von meinem Kumpel Oleg Domb<strong>ro</strong>vschi eine<br />

neue Variante, die er auch direkt vom Autor erzählt bekommen hatte.<br />

Nämlich: Nach der Flucht habe er an einem der Tage auf einem Basar ein<br />

paar Ukrainer get<strong>ro</strong>ffen, die nach gewissen ihm bekannten Anzeichen<br />

möglicherweise Mitglieder der subversiven Organisation Tschornaja Koschka<br />

waren. Da er zufällig ihr Kennwort aussprach, hätten diese ihm sofort vertraut,<br />

und die Schwarze Katze lotste ihn aus Odessa heraus, brachte ihn an einen<br />

sicheren Ort, und nach einiger Zeit habe sie ihm einen falschen Pass verschafft,<br />

mit dem er nach Hause kehren konnte. Auch diese Variante <strong>ro</strong>ch mir nicht<br />

gerade glaubwürdig.<br />

Welches war aber dann die wahre Version? Bestimmt wusste nicht einmal<br />

er mehr dies so genau, lag sie doch begraben unter einem Haufen von<br />

Apokryphen. Vor allem, da er diese keinem erzählt hatte, sie sich also nicht in<br />

sein Gedächtnis eingegraben hatte.<br />

Einzig dies scheint sicher: Er war kein Mythomane, der aus dem Gefallen<br />

am Fabulieren heraus log, und nie log er ohne äußeren Zwang. So wie er

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!