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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 95<br />

konnten Wasser holen, um Leib und Kleidung zu waschen. Dies war den ganzen<br />

Tag über unsere Beschäftigung. Am gleichen Tag schlossen wir auch<br />

Bekanntschaft mit dem mahlzeitlichen Lagerregime, dessen wir uns – einige<br />

unbedeutende Lagervariationen ausgenommen – bis ans Ende unseres<br />

Leidensweges der Gefangenschaft erfreuen sollten. Die Tagesration bestand aus<br />

400 gr. klebrigen und unaufgegangenen Gerstenb<strong>ro</strong>ts, aus homöopathischen<br />

Zucker- und Fettrationen von je 20 gr., aus einer wie Quellwasser klaren<br />

Kohlsuppe, einer Kelle Kascha (eine Art Graupe) und russischem Tee. Ein<br />

ideales Aushungerungsregime. Um unseren Hunger irgendwie zu betrügen,<br />

tranken wir wahnsinnig viel Tee (genau genommen gekochtes Wasser mit ein<br />

paar Teekrümeln drin), und wenn er alle war, tranken wir kaltes Wasser vom<br />

Pumpbrunnen. Allerdings mussten wir, um all diesen Überfluss an Flüssigkeit zu<br />

eliminieren, die ganze Nacht über zwischen Baracke und WC hin- und<br />

herpendeln, was eine höllische Tortur und ein ernstes Erkältungsrisiko darstellte,<br />

wie man bald sehen wird. Also, auf den unteren Pritschen der von einem<br />

Blechofen geheizten Baracke schlief man in alles, was man an Kleidung hatte,<br />

eingewickelt (es war kalt, verdammt kalt), und auf den oberen bis aufs Hemd<br />

entkleidet, da alle Wärme, inklusive die Körperwärme, nach oben stieg. Um nach<br />

draußen zum WC zu gehen, musste ich, der ich oben schlief, meine Mütze<br />

aufsetzen, meinen pelzgefütterten Mantel und die Stiefel anziehen und dann<br />

draußen auf dem fast 30 Meter langen Schneesteg zum WC die f<strong>ro</strong>stige Luft von<br />

ca. -15-20º Celsius einatmen, hin und zurück, genau wie zig andere auch, die mit<br />

geschlossenen Augen und traumwandlerisch dahinstolperten, als wären sie unter<br />

Hypnose oder dazu verdammt, unaufhörlich in einem der Höllenkammern Dantes<br />

herumzuirren. Nachdem ich dann zurück auf den „Ast“ kehrte (so nannten wir<br />

unsere Pritschen) und den Kopf auf den als Kissen dienenden Rucksack bettete,<br />

ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich ungenügend Flüssigkeit<br />

abgelassen hatte, um den Rest der Nacht ruhig schlafen zu können, und in dem<br />

Moment stellte sich auch die tyrannische Not ein, wieder zu urinieren –<br />

selbstverständlich keine real organische, sondern eine rein eingebildete Not.<br />

Schlimm war aber, dass ich nicht einschlafen konnte, solange diese falsche<br />

physiologische Not nicht befriedigt wurde; und dann ging der Leidensweg von<br />

vorne los: Ankleiden, runter kriechen, Stiefel anziehen und den Trip Erdhütte -<br />

WC -Erdhütte wieder aufnehmen, bis zur Erschöpfung. Einige der Jungs haben<br />

mir gestanden, dass sie es sogar auf sechs-sieben solcher Gänge p<strong>ro</strong> Nacht<br />

gebracht hatten. Was mich betrifft, so wurde mir, all meiner Sorgfalt zum T<strong>ro</strong>tz,<br />

mich so gut wie nur irgend möglich anzuziehen, eine einzige Unaufmerksamkeit<br />

zum Unglück. Völlig schlaftrunken trat ich, nach wer weiß wie vielen Ausflügen<br />

zum WC, nur im Hemd hinaus in die f<strong>ro</strong>stige Nacht. Ich hatte wie ein<br />

Schlafwandler gehandelt und wachte erst in der Wirklichkeit auf, als ich unter<br />

dem linken Schulterblatt etwas wie einen Messerstich verspürte. Dies passierte<br />

mir in der letzten Nacht von Tambow. Infolgedessen quälte mich ein furchtbares<br />

Stechen im Rücken, dessen Schmerz, wenn ich etwas Heißes trank, von einem<br />

moderaten Fieber (wie bei Tuberkulose) und t<strong>ro</strong>ckenem Husten begleitet wurde.<br />

Aber schlimmer noch als alles war jener Zustand der Schwäche, der Müdigkeit,<br />

der Abnabelung, des Schwebens, wie im Traum, durch die mich umgebende<br />

Welt, die manchmal ihre Eigenschaft als Wirklichkeit verlor. Ich verglich den

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