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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 450<br />

aust<strong>ro</strong>ckneten und schwarz wie Mumien wurden. Alles, was mich umgab, war mit<br />

Tod getränkt. Ich atmete Tod ein.<br />

Als der Waldsaum dann schließlich e<strong>ro</strong>bert wurde und meine Kompanie<br />

aus diesem Sektor abgezogen wurde, kam ich mir wie ein von den Toten<br />

Auferstandener vor.<br />

Letztlich stiegen wir auf die LKWs und verließen diese unheimliche, von<br />

den Schatten der Gefallenen und von den erschütternden Erinnerungen derer,<br />

die jene Tage erlebten, heimgesuchte Stätte. Die Einfahrt nach Odessa rief in mir<br />

andere Erinnerungen wach. Vor meinen Augen erschien jener warme und helle<br />

16. Oktober mit goldenen Marienfäden, als die belagerte Stadt fiel und ich sie<br />

nicht als Gefangener in einem Laster mit Tschassowojs im Rücken betrat,<br />

sondern als siegreicher, aber nicht triumphierender Kombattant. Es waren zu<br />

viele Tote, die ich in mir trug, um mich über einen Sieg zu freuen, dessen Preis<br />

sie gezahlt hatten. Ich freute mich, dass wir alle aus dem Schatten des Todes<br />

herausgetreten waren, dass wir unversehrt waren und sich uns die Tore des<br />

Lebens wieder öffneten – mit all seinen Geschenken, aber für wie lange bloß?<br />

Vor allem aber verspürte ich eine unbändige Notwendigkeit, zu beten, Demut zu<br />

üben, Gott dafür zu danken, dass er mich ans Ufer geführt hatte. Und da<br />

ereignete sich das Wunder: Mit meinen Leuten schritt ich durch die<br />

menschenleeren Straßen voller Müll, mit umgestürzten und ausgebrannten, nach<br />

sowjetischem Benzin riechenden Autos, hindurch zwischen rauchenden<br />

Häusern, verlassenen LKWs, entgleisten Straßenbahnen, und als wir in einen<br />

breiten Boulevard einbogen, stand ich plötzlich vor jener g<strong>ro</strong>ßartigen<br />

Erscheinung, die ich kannte, die ich bereits wie im Traum gesehen, aber nie zu<br />

hoffen gewagt hatte, einst auch zu berühren.<br />

Von einem anderen meiner Beobachtungsposten, jenem auf der Anhöhe<br />

von Dalnik, konnte ich sie manchmal abends, wenn der Himmel wolkenlos war,<br />

im goldenen Licht des Sonnenuntergangs über allen anderen Gebäuden erhoben<br />

sehen – die g<strong>ro</strong>ße Kathedrale von Odessa in all ihrer byzantinischen Pracht<br />

zeigte sich mir dann verklärt, als schwebte sie zwischen Himmel und Erde. In<br />

ihre Richtung hin sprach ich meine Gebete an Gott, in denen ich Ihn bat, uns<br />

lebend und unversehrt aus dem Dunkel und aus der Todesenge herauszuholen,<br />

worin wir gefangen waren. Und nun standen wir nun unerwartet vor ihr. Ich kniete<br />

damals auf ihren ersten Stufen nieder und dankte dem Himmel dafür, dass er<br />

unsere Gebete erhört und uns erlöst hatte. Dies war damals.<br />

Und nun kamen wir mit dem LKW erneut an ihr wie an einer alten<br />

Freundin vorbei, und im Flug der Vorbeifahrt vertraute ich ihr mein Gebet an den<br />

Lieben Gott an, uns auch aus dem Bauch des <strong>ro</strong>ten Leviathans zu retten, so wie<br />

er Jonas aus dem Bauch des Wales rettete.<br />

Der Weg nach Odessa enthüllte uns sowohl die Grandeur des alten<br />

Hafens mit seiner französischen Architektur, mit seinem gar an Paris erinnernden<br />

Stadtbild, als auch die kaum verbundenen Wunden des Krieges, alles von der<br />

grauen Dreckschicht der drei Jahrzehnte sowjetischen Elends überzogen.<br />

Wir kamen an der Oper, eine treue Kopie von Garniers Pariser Opernbau,<br />

sowie an ein paar im selben Stil gehaltenen Hotels vorbei, die allerdings von der<br />

Zeit mitgenommen und vor allem vom Schmutz des Regimes bedeckt worden

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