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radu m|rculescu - Memoria.ro

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Radu M!rculescu: Leid und Erleuchtung in der sowjetischen Gefangenschaft 424<br />

115. Der sechste Winter<br />

Dem Abtransport der Kranken (die gewöhnlich dem Abtransport aller<br />

Gefangenen vorausgeht) folgte aber nicht mehr – wie erwartet – auch der<br />

unsrige, so dass mit den ersten Schneeflocken, die über die Weite der Taiga, die<br />

auch uns umfasste, fielen, sich auch über unsere Herzen ein Hauch von<br />

Traurigkeit niederließ. Dieser Winter 1947-1948, in den wir nun eintraten, war der<br />

sechste, den wir in Gefangenschaft verbrachten, und wir wussten nicht einmal,<br />

wie viele es noch sein würden.<br />

Eines Abends – es war am Vorabend des 23. November, dem Tag, an<br />

dem wir am Donbogen in Gefangenschaft geraten waren – kamen zwei junge<br />

NKWD-ler zu einem Routinebesuch in unsere Baracke, und aus dem Gespräch<br />

mit unseren Periwotschiks erfuhren sie, dass für uns der sechste Winter in<br />

Gefangenschaft anbrach. Sie sagten nichts und gingen. Bevor sie aber in die<br />

Finsternis und den Nieselregen traten, verweilten sie noch einen Moment im<br />

schwach beleuchteten Vorraum, um eine Zigarette zu rauchen. Hier entdeckte<br />

sie Cotea, der, unbemerkt von den beiden, einen Teil ihres Gespräches mithören<br />

konnte.<br />

„Hast du gehört, was sie gesagt haben?“, begann der eine. „Sechs Jahre<br />

Gefangenschaft! Sechs Jahre! Gut, ein Jahr, zwei, bitte schön, drei Jahre, das<br />

geht ja noch. Aber sechs? So lange hinter Stacheldraht festzusitzen! Ich glaube,<br />

ich an ihrer Stelle wäre gestorben.“<br />

„Weh diesen Unglücklichen! Krieg fehlte ihnen? Wie dem auch sei, sechs<br />

Jahre sind wirklich übertrieben“, schloss der andere. Und mit diesen mitleidvollen<br />

Überlegungen traten sie in die Nacht hinaus.<br />

„Das sieht ja ausgezeichnet aus, wenn sogar unsere Feinde uns<br />

bemitleiden“, kommentierte ich den kruden Bericht Coteas.<br />

Wir aber waren all diese Zeit über nicht übergeschnappt, wie der junge<br />

NKWD-Mann es getan hätte, weil wir gewisse geistige Ressourcen besaßen<br />

(oder uns diese zu schaffen verstanden), die uns dazu verhalfen, aufrecht zu<br />

bleiben. Im Gegenteil, einem guten Teil von uns gelang es, aus der Not eine<br />

Tugend und eine tote und bedrückende Zeit zu einer lebendigen, interessanten<br />

und schöpferischen zu machen, indem wir sie mit so vielen fruchtbaren<br />

Beschäftigungen füllten, dass sie uns fast nicht mehr ausreichte. Anstatt uns zu<br />

erdrücken, fehlte sie uns nun. So etwa stürzten wir uns jetzt, da wir wussten,<br />

dass unsere Heimkehr kein Thema mehr war, wenigstens nicht diesen Winter,<br />

mit einer Art Furie auf allerlei Studien, lernten Fremdsprachen (Deutsch,<br />

Englisch, Französisch, sogar Russisch), „belegten“ wissenschaftliche Fächer (vor<br />

allem Mathematik), Philosophie, Religionsgeschichte, Literaturgeschichte,<br />

Musiktheorie oder studierten die Heilige Schrift etc. etc. Bücher aus all diesen<br />

Gebieten gab es jede Menge, vor allem bei den Deutschen. Es wurden mit<br />

Leichtigkeit Kurse – ohne Ansprüche und ohne Gehabe – imp<strong>ro</strong>visiert, die sich<br />

mit der gleichen Leichtigkeit auch wieder auflösten. Das Wesentliche,<br />

unabhängig von Niveau oder Qualität, war, dass man studierte und dass das

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